Als Sprecher einer natürlichen Sprache erscheint es einem normalerweise äußerst unwahrscheinlich, dass zwei Personen eine Begebenheit unabhängig voneinander in exakt dem gleichen Wortlaut schildern, insbesondere dann, wenn die Schilderung sich über mehrere Sätze erstreckt. Für jede Äußerungssituation scheint es vielmehr eine große, wenn nicht unendliche Anzahl von theoretisch möglichen Formulierungsoptionen zu geben. Dass Äußerungen zweier Personen in einer Situation exakt den gleichen Wortlaut haben, kennt man nur für stereotypes Sprachverhalten wie z.B. bei der Begrüßung u.ä. Aus diesem Grunde geht man gemeinhin davon aus, dass der Wortlaut einer sprachlichen Äußerung unvorhersagbar ist.
Es wurde im Rahmen der vorliegenden Studie versucht, für eine Reihe von nicht-stereotypen Äußerungsanlässen zu erkunden, inwieweit die große Zahl theoretisch möglicher Formulierungsoptionen zum Zuge kommt. Es wurden jeweils 100 schriftlich formulierte Antworten auf eine Reihe verschiedener einfach strukturierter Fragen erhoben, wobei die Fragen in bestimmten Details systematisch variiert wurden. Auf diese Weise wurden 4 × 100 Studierende der Universität Bielefeld gebeten, jeweils sechs einfache Fragen schriftlich zu beantworten.
Zunächst konnte für einige Äußerungsintentionen die Bandbreite der Formulierungsoptionen ermittelt werden. Es stellte sich heraus, dass die Formulierungsoptionen, die den Versuchspersonen zur Verfügung standen, nicht alle in der gleichen Häufigkeit gewählt wurden, vielmehr gibt es einige prominente Strukturen, die wesentlich häufiger zur Anwendung kamen als andere.
Gibt es in einem Äußerungszusammenhang drei oder mehr Formulierungsoptionen, dann lassen sich in der Regel zwei verschiedene Häufigkeitsmuster beobachten. Entweder wird eine Option mit über 90 v.H. nahezu ausschließlich gewählt und die übrigen Optionen treten lediglich als bloße Ausnahmen in Erscheinung oder aber die Häufigkeitswerte lassen sich in eine Rangreihe bringen und liegen im Idealfall auf einer Kurve, die sich am sinnvollsten durch eine Exponentialfunktion beschreiben lässt. Was diese Funktion angeht, so wird die folgende Hypothese vertreten:
Die absolute Häufigkeit der in einer Rangreihe i-ten Formulierungsoption berechnet sich auf der Basis einer Menge von n Äußerungen nach der folgenden Formel: n (½)i.
Dadurch relativiert sich die Unberechenbarkeit sprachlicher Äußerungen, zumindest in Bezug auf Gruppen von Sprechern. Es konnte gezeigt werden, dass das sprachliche Verhalten einer größeren Gruppe von Personen auf der Ebene des Formulierens - also des Umsetzens einer bestimmten Sprechabsicht zu einer sprachlichen Äußerung - in Bezug auf die wortwörtliche Beschaffenheit der untersuchten Äußerungen und Äußerungsteile bestimmte quantitative Merkmale aufweist und somit vorhersagbar ist, obwohl die wortwörtliche Beschaffenheit einer individuellen Äußerung einer Person nach wie vor unvorhersagbar bleibt. Die Unberechenbarkeit einer sprachlichen Äußerung erweist sich als im Grunde triviale Folge aus der Vielzahl an unterschiedlich gewichteten Wahlmöglichkeiten, die für eine Äußerung als Ganzes und für jeden Äußerungsteil bestehen.
Da sich die durch die obige Formel beschriebenen quantitativen Zusammenhänge sowohl auf der Ebene der Gesamtäußerung als auch auf der Ebene der Äußerungsteile (z.B. Wortwahl) zeigen, könnte man das Entscheidungsverhalten in Bezug auf verschiedene Formulierungsoptionen als skaleninvariant bezeichnen. Skaleninvarianz ist ein Phänomen, das sich häufig im Zusammenhang mit dem Verhalten komplexer dynamischer Systeme zeigt. Es konnte demnach gezeigt werden, dass sich die Komplexität und Dynamik der bei der Sprachproduktion mitwirkenden neuronalen Systeme im Formulierungsverhalten niederschlägt.