In der neuropsychologischen Diagnostik bei Patienten mit Epilepsie sind Fragestellungen zur Lateralisation und Lokalisation der epileptischen Funktionsstörung und zur Qualitätskontrolle bei konservativen und operativen Epilepsiebehandlungen zu beantworten. Dabei werden häufig feste Testbatterien, die die Errechnung breiter Fähigkeitsfaktoren ermöglichen, eingesetzt. Zur Auswertung und Ergebnisinterpretation werden die Leistungen der Patienten auf Einzeltest- oder Faktorenebene zumeist mit einer hirngesunden Normierungsstichprobe verglichen. Dieser Vergleich ist allerdings nur bei Erfüllung bestimmter psychometrischer Voraussetzungen zulässig.
Zur Überprüfung dieser Voraussetzungen wird anhand der Normierungsstichprobe untersucht, welches Intelligenzstrukturmodell sich am besten zur Beschreibung der faktoriellen Struktur der Testbatterie eignet. Zweitens wird überprüft, ob sich diese faktorielle Struktur auch in einer Stichprobe von Patienten mit Epilepsie wiederfindet. Schließlich werden zunehmend stringente Hypothesen bezüglich der Invarianz verschiedener Parameter des aufgestellten Modells getestet. Die Ergebnisse dieser Invarianztests geben Auskunft darüber, inwieweit die psychometrischen Eigenschaften der Faktoren und der zugehörigen Tests stichprobenunabhängig sind.
Die Basis für die empirische Untersuchung bilden 190 im Rahmen einer Normierungsstudie untersuchte Probanden und 190 Patienten mit Epilepsie. Beide Stichproben wurden mit der neuropsychologischen Testbatterie der Klinik für Epileptologie in Bonn getestet. Die vergleichende Untersuchung der Eignung der Intelligenzstrukturmodelle sowie die Überprüfung der Invarianzhypothesen erfolgten mittels konfirmatorischer Faktorenanalysen.
Es kann gezeigt werden, dass sowohl die Daten der Normierungsstichprobe als auch die Daten der Patientenstichprobe am besten durch das Intelligenzstrukturmodell der Cattell-Horn-Carroll Theory of Cognitive Abilities beschrieben werden können. Dabei lassen sich folgende fünf Faktoren abbilden: kristalline Intelligenz (Gc), visuo-räumliche Fähigkeiten (Gv), Kurzzeitgedächtnis (Gsm), Langzeitgedächtnis und Abruf (Glr) sowie kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit (Gs). Durch Testung der Invarianzhypothesen konnte die Annahme konfiguraler und schwacher metrischer Invarianz bestätigt werden. Das bedeutet, dass für beide Gruppen die gleiche Anzahl an Faktoren vorliegt und auch die Faktorladungen in den Gruppen numerisch gleich sind. Die Annahme starker metrischer Invarianz, die zusätzlich in den Gruppen gleiche Itemkonstanten (Höhenlagen) erfordert, kann nicht bestätigt werden. Die nachgewiesene Invarianz der Faktorenkovarianzen verweist auf gleiche Beziehungen zwischen den latenten Faktoren.
Die Ergebnisse dieser Untersuchung haben verschiedene Implikationen für die neuropsychologische Testpraxis und für die klinische Forschung: Zunächst konnte gezeigt werden, dass die Testbatterie in beiden Gruppen die gleichen Leistungsdimensionen bzw. die gleichen Konstrukte erfasst. Der dabei erbrachte Nachweis der Vereinbarkeit der Daten mit dem Intelligenzmodell der Cattell-Horn-Carroll Theory of Cognitive Abilities ermöglicht es, die in dieser Theorie beschriebenen Angaben zur Konstruktvalidität der Faktoren auf die Faktoren der neuropsychologischen Testbatterie zu übertragen und daraus verschiedene Untersuchungshypothesen oder klinische Schlussfolgerungen abzuleiten. Darüber hinaus ermöglicht der Nachweis schwacher metrischer Invarianz, gruppenspezifische Unterschiede in Kriterienkorrelationen zu untersuchen. Der Bezug auf das Cattell-Horn-Carroll-Modell kann die Kommunikation von Ergebnissen zwischen den verschiedenen Forschungszentren erleichtern und für die Weiterentwicklung der neuropsychologischen Testbatterie wichtige Impulse liefern. Weil die Hypothese der starken metrischen Invarianz nicht bestätigt werden konnte, ist ein unverzerrter Vergleich der Skalenmittelwerte zwischen den Gruppen nicht möglich. Dementsprechend ist es nicht statthaft, die Daten der Patientenstichprobe anhand der Normierungsstichprobe zu standardisieren. Dies ergibt sich daraus, dass ohne den erbrachten Nachweis starker metrischer Invarianz nicht davon ausgegangen werden kann, dass Probanden aus beiden Stichproben bei gleichen latenten Fähigkeiten auch die gleichen Testwerte auf Faktorenebene erhalten würden.