Ziel dieser Dissertation ist es zu zeigen, dass versorgungspolitische Entscheidungen mit Hilfe von wissenschaftlichen Instrumenten, die dem State of the Art von Versorgungs- und Public-Health-Forschung entsprechen, vorbereitet werden können, damit die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen dem von verschiedenen Seiten formulierten Anspruch an Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen gerecht werden kann. Diese Instrumente haben in den letzten Jahren unter den Schlagworten "Evidenzbasierte Medizin (EbM)" und "Health Technology Assessment (HTA)" weite Verbreitung gefunden. Das Beispiel, anhand dessen dieser Nachweis geführt werden wird, entstammt einer drängenden und doch bisher von einer überwiegend somatisch ausgerichteten EbM vernachlässigten Versorgungsaufgabe: Die Therapie psychischer Komorbiditäten bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2.
Ein im Rahmen dieser Arbeit durchgeführter systematischer Review zur Wirksamkeit psychotherapeutischer Behandlung komorbider psychischer Störungen bei einem vorhandenen Diabetes mellitus Typ 2 lieferte folgendes Ergebnis: In den vier Indikationsgruppen "Depression", "Angst und Stresssymptome", "Essstörungen" und "sexuelle Funktionsstörungen" liegt lediglich für den Bereich der Depression belastbare Evidenz für die Wirksamkeit eines psychotherapeutischen Verfahrens, der kognitiven Verhaltenstherapie, vor, wobei sich diese lediglich auf eine Studie mit N = 51 stützt. Für alle anderen komorbiden Störungsgruppen konnte wegen methodischer Mängel der Studien oder mangels signifikanter Veränderungen im Outcome in den Studien kein Nutzenbeleg gefunden werden.
Gleichzeitig sind im Verlauf der Problemanalyse und der Durchführung des "assessments" neue Fragestellungen aufgetaucht, welche auf Schwächen der bisherigen methodischen und versorgungspolitischen Konzepte beim Versuch der Übertragung auf die besonderen Bedürfnisse von psychisch komorbiden Kranken hinweisen:
- Die Disease-Management-Programme für chronisch Kranke vernachlässigen die Psychotherapie und die psychotherapeutische Versorgung im Falle eine psychischen Komorbidität.
- Die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses hinken den Entwicklungen in der Bewertung und Umsetzung von Innovationen zur besseren Versorgung psychisch Kranker seit Aufkommen der Evidenzbasierten Medizin hinterher.
- Die methodischen Standards von HTA und systematischen Reviews sind ausschließlich auf Fragestellungen der somatischen Medizin ausgerichtet. Die Besonderheiten im Design von Studien der Psychotherapieforschung und in der Bewertung der Ergebnisse solcher Studien hinsichtlich ihrer Übertragbarkeit auf den Versorgungskontext finden bisher keine Berücksichtigung.
Diese Schwächen aufgreifend und mit dem systematischen Review am Beispiel des Diabetes mellitus Typ 2 als empirischer Basis erarbeitet die Dissertation Lösungsansätze zur Verbesserung der Versorgung psychisch komorbider chronisch Kranker durch Weiterentwicklung (1) der untergesetzlichen Normen, (2) der erkenntnisleitenden Methoden und (3) der integrierten Versorgungskonzepte.