Hintergrund und Fragestellung: Zuwanderer machen einen zahlenmäßig bedeutsamen Teil der deutschen Gesellschaft aus. Internationale Studien zeigen, dass sich die Krebsrisiken von Migranten zum Teil von der nicht eingewanderten Bevölkerung unterscheiden. Mögliche verursachende Faktoren für diese Unterschiede können während des ganzen Lebenslaufs der Migranten aufgetreten sein, weshalb bestehende Erklärungsmodelle zur Gesundheit von Migranten um eine Lebenslaufperspektive erweitert werden müssen. Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Weiterentwicklung bestehender Erklärungsmodelle anhand der empirischen, epidemiologischen Fragestellung, ob sich die Krebsrisiken von türkischen Kindern und Erwachsenen in Deutschland von denen der Allgemeinbevölkerung unterscheiden.
Methoden: Die theoretische Fragestellung wurde anhand einer Recherche und Diskussion der bestehenden Erklärungsmodelle zu Migration und Gesundheit bearbeitet. Im Rahmen der empirischen Fragestellung wurden zur Analyse der Krebsrisiken von Kindern unter 15 Jahren die Daten des Deutschen Kinderkrebsregisters von 1980 2004 ausgewertet. Für die Darstellung der Krebsrisiken von Erwachsenen wurden exemplarisch die Daten des Hamburgischen Krebsregisters des Zeitraums 1990 2004 analysiert. Die Klassifikation der türkischen Fälle geschah durch einen Namensalgorithmus. In Hamburg konnte zusätzlich der Anteil türkischer Personen in der Bezugsbevölkerung auf die gleiche Weise ermittelt werden, wodurch hier die Berechnung von Inzidenzraten möglich war. Die Daten des Kinderkrebsregisters wurden als case only Analyse mit Hilfe von proportional cancer incidence ratios dargestellt.
Ergebnisse: Ein neues, um eine Lebenslaufperspektive erweitertes Modell zu Migration und Gesundheit wurde entwickelt und für die Interpretation der empirischen Ergebnisse genutzt. Für die empirische Fragestellung konnten durch den Namensalgorithmus erfolgreich die türkischen Fälle in den jeweiligen Registern ermittelt werden. Die Krebsrisiken von türkischen Kindern unterscheiden sich auffällig bei Lymphomen von denen der nicht-türkischen Kinder. Bei den erwachsenen türkischen Zuwanderern finden sich neben niedrigeren Risiken, z.B. für Hautkrebs oder Brustkrebs bei Frauen, erhöhte Risiken für Lungenkrebs bei Männern und für Lymphome bei beiden Geschlechtern. Die Unterschiede in den Krebsrisiken sind dabei einer zeitlichen Dynamik unterworfen, ablesbar an Veränderungen zwischen den einzelnen Geburtskohorten.
Diskussion: Das neue Erklärungsmodell hat sich bei der Diskussion der empirischen Ergebnisse bewährt. Die Erweiterung des Modells um eine Lebenslaufperspektive bietet der Migrationsepidemiologie neue Ansätze bei der Interpretation und Erklärung von Studienergebnissen und neue Möglichkeiten bei der Planung und Durchführung von Studien. Die im empirischen Teil gefundenen Unterschiede in den Krebsrisiken zwischen Zuwanderern und der zum größten Teil nicht zugewanderten Bevölkerung sind konsistent mit Ergebnissen von Studien aus anderen Ländern. Die meisten Erklärungen für diese Unterschiede kommen aus dem Bereich von Lebensstil assoziierten Faktoren, wie etwa reproduktives Verhalten, Ernährungsweisen oder Rauchen. Türkische Migranten haben erhöhte Krebsrisiken für Krebsarten, die mit Infektionen in einen Zusammenhang gebracht werden, wie Magen- oder Leberkrebs bei Erwachsenen oder Leukämien bei Kindern. Für Krebsarten, die in Zusammenhang mit Lebensweisen, besonders dem "typisch westlichen" Lebenstil gebracht werden, wie Brustkrebs und späte Erstlingsgeburt oder Darmkrebs und Ernährungsweisen, gibt es Hinweise, dass türkische Migranten ein niedrigeres Risiko haben. Ausnahme ist das erhöhte Krebsrisiko für Lungenkrebs bei männlichen türkischen Migranten. Diese erhöhten Risiken für Lungenkrebs lassen sich durch eine höhere Rauchprävalenz von türkischen Männern erklären. Die Ergebnisse dieser Arbeit geben weitere Hinweise auf das Zusammenspiel von frühkindlichen Expositionen, z.B. Infektionen, und der Entstehung von Krebs im Kindesalter, aber auch Jahrzehnte später im Erwachsenenalter. Die hier relevanten Expositionen treten vor der Migration, z.B. frühkindliche Infektionen, aber auch nach der Zuwanderung, z.B. Beibehalten von Ernährungsgewohnheiten oder Adaptieren von Rauchgewohnheiten, auf und die Expositionen und die Risiken unterliegen einer zeitlichen Dynamik. Dadurch wird die Wichtigkeit einer Lebenslaufperspektive bei der Untersuchung von Krebsrisiken (und der Gesundheit insgesamt) von Migranten deutlich.