Seit den siebziger Jahren wurde im Rahmen der Aphasieforschung immer wieder der Versuch unternommen, Aphasien bereits in der Akutphase zu klassifizieren (z.B. Kertesz, 1979; Vignolo, 1988; Wallesch et al., 1992). Die meisten Autoren kamen jedoch zu dem Ergebnis, dass eine Klassifikation akuter Aphasien zu den Standardsyndromen in der Akutphase weder möglich noch sinnvoll ist (Wallesch, 1993:19). Insbesondere während der ersten Stunden und Wochen nach Insult kommt es zu starken Symptomschwankungen infolge der Mechanismen der Spontanremission. Darüber hinaus haben die begleitend auftretenden Basisfunktionsstörungen zu diesem frühen Zeitpunkt noch einen starken Einfluss auf die sprachlichen Fähigkeiten der Patienten. Es können daher in der Akutphase von Aphasien Symptomkonstellationen beobachtet werden, die keinem klassischen Syndrom entsprechen (z.B. Huber & Ziegler, 2000:488ff).
Insbesondere in der Akutphase von Aphasien wird daher die Einschätzung der Flüssigkeit von einigen Autoren als geeignete Klassifikationsalternative betrachtet (z.B. Wallesch, 1992; Biniek, 1997). Diese Unterscheidung in flüssig und nichtflüssig wird vorwiegend im angloamerikanischen Raum verwendet und als valide und therapierelevant angesehen. Obwohl diese Klassifikation häufig genutzt wird, um akutaphasische Sprache zu beschreiben, herrscht keine konsistente Nutzung des Flüssigkeitskonzeptes vor. In der vorliegenden Studie ist die syntaktische Struktur der akutaphasischen Sprachproduktion von besonderem Interesse, da die Begriffe flüssig und paragrammatisch sowie nichtflüssig und agrammatisch häufig synonym verwendet werden. Die Forschungsfragen dieser Studie lassen sich wie folgt formulieren:
1. Ist es möglich, Parameter zu definieren, die es ermöglichen, die Spontansprache akuter Aphasiker in flüssig und nicht flüssig zu trennen?
2. Ist es möglich, alle akuten Aphasien dieser Dichotomie zuzuordnen?
3. Kommen unterschiedliche Beurteiler zu unterschiedlichen Ergebnissen in Bezug auf die Einschätzung akuter Aphasiker hinsichtlich ihres Flüssigkeitsprofils?
4. Wie bildet sich ein agrammatischer bzw. paragrammatischer Sprachstil in der Akutphase von Aphasien heraus?
5. Gibt es möglicherweise Evidenzen für die von Kolk & Heeschen postulierte Adaptationshypothese?
Die Stichprobe setzte sich zusammen aus 19 akuten Aphasikern (12 männlich, 7 weiblich, Alter im Mittel 68, 63 Jahre) mit vaskulärer Erkrankung (intrazerebrale Blutung oder ischämischer Insult links). Die Erhebungen der Spontansprache in Form eines halbstandardisierten Interviews wurden zu drei definierten Testzeitpunkten innerhalb der ersten 6 Wochen post onset durchgeführt. Die Sprachproben wurden orthographisch transkribiert und in ExmARalda (partitur editor für Windows XP) annotiert. Neben der Verteilung der Wortarten wurden auch pathologische Veränderungen wie Satzverschränkungen und Paraphasien erfasst. Darüber hinaus wurden die Interviews von 24 klinischen Linguistinnen auditiv hinsichtlich der Flüssigkeit beurteilt und die Ergebnisse in Bezug auf die Beurteilerübereinstimmung ausgewertet. Darüber hinaus wurden die Veränderungen der syntaktischen Struktur der Patienten analysiert.
Die hohe Anzahl der untersuchten Parameter wurde mittels einer Faktorenanalyse reduziert. Mit Hilfe der principle components analysis (PCA) konnten 7 relevante Faktoren ermittelt werden (Faktor 1: Wortvariabilität, Faktor 2: Sprechgeschwindigkeit und Phrasenlänge; Faktor 3: phonematische und syntaktische Selbstkorrekturen, Faktor 4: Wortabruf; Faktor 5: automatisierte und inkohärente Sprachanteile; Faktor 6: phonematische Defizite; Faktor 7: syntaktische Defizite). In einem weiteren Schritt wurde eine Clusteranalyse durchgeführt, um die Patienten über die ermittelten relevanten Faktoren in flüssig und nichtflüssig zu trennen. Die Ergebnisse sprechen für eine feinere Abstufung hinsichtlich der Flüssigkeit und eine detaillierte Beschreibung spontansprachlicher Fähigkeiten und Defizite. Die Einschätzung der Patienten in flüssig und nichtflüssig durch verschiedene Rater zeigt, dass insbesondere zum Ende der Akutphase keine hohe Interrater-Reliabilität gegeben ist und dass die Akutphase viele sprachliche Muster bereitstellt, die weder als flüssig noch als nichtflüssig eindeutig definiert werden können.
Darüber hinaus konnten auf Grundlage der sprachlichen Verläufe einzelner Patienten mögliche Prozesse des adaptiven sprachlichen Verhaltens nachgebildet werden. Die Spontansprachproben dieser Patienten liefern sowohl Hinweise auf präventiv adaptierendes als auch auf korrektiv adaptierendes sprachliches Verhalten. Im Zuge der Interpretation dieser Patienten wurde deutlich, dass der Agrammatismus kein einheitliches Störungsprofil darstellt, sondern zwischen mehreren Formen des Agrammatismus unterschieden werden muss.