Die Grünalge Volvox carteri besteht aus nur zwei Zelltypen, die unterschiedliche Funktionen besitzen. Die klare Arbeitsteilung zwischen den Gonidien, die für die Reproduktion verantwortlich sind, und den für Bewegung spezialisierten Somazellen macht diese Alge zu einem interessanten Modellorganismus für die Untersuchung der Zelldifferenzierung. Die Aufklärung der Unterschiede zwischen diesen beiden Zelltypen bezüglich der Genexpression kann wichtige Auskünfte über die Funktionsweise der Zelldifferenzierung liefern. Durch die Verwendung von Real Time RT-PCR-Analysen wurde die Expression einer Gruppe von 39 Genen aus 170 bioinformatisch analysierten cDNA-Sequenzen in beiden Zelltypen gemessen. Die Ergebnisse zeigen, dass 16 dieser Gene signifikant stärker in Somazellen exprimiert werden, während weitere zehn Gene eine höhere Expression in Gonidien aufweisen. Der Zusammenhang zwischen der zelltypspezifischen Lokalisation von Soma-spezifischen Genen und ihrer Funktion wurde im Rahmen dieser Arbeit analysiert und diskutiert. Unter den in Somazellen exprimierten Genen befand sich ein Retinoblastoma-ähnliches Gen (RBR1). Die Untersuchungen, die im weiblichen Stamm Eve10 durchgeführt wurden, konnten zeigen, dass dieses Gen während der Embryogenese hoch exprimiert wird. RBR1 wird in Volvox posttranskriptionell (durch differenzielles Spleißen) und posttranslationell (Phosphorylierung durch CDK-Cykline) reguliert. Die genauere Analyse von RBR1 hinsichtlich der Expression in den beiden Zelltypen zu verschiedenen Zeitpunkten der Embryogenese konnte zeigen, dass dieses Gen in allen untersuchten Stadien stärker in den Somazellen als in Gonidien exprimiert wird. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass RBR1 nicht nur an der Embryogenese sondern auch an der Seneszenz der Somazellen beteiligt sein könnte. Im Vergleich zum asexuellen Lebenszyklus wird RBR1 im sexuellen Lebenszyklus deutlich stärker exprimiert, was auf dessen Rolle bei der sexuellen Entwicklung in Volvox hinweist. Daraufhin wurde vergeblich mit verschiedenen PCR-Ansätzen (mit normalen und degenerierten Oligos) und Southern-Blot-Analyse nach RBR1 in Männchen gesucht. Deshalb wurden als nächstes die Männchen (Volvox-Stamm 281-1) mit RBR1 von Weibchen transformiert, was zur Zunahme der Zellgröße bei den Somazellen, Gonidien und Spermienpaketen führte. Die Abwesenheit von RBR1 in Männchen einerseits und die Funktionalität des RBR1 von Weibchen in Männchen anderseits deutet darauf hin, dass vermutlich ein funktionell analoges Gen zu RBR1 in Männchen vorhanden ist, das jedoch an die neuen geschlechtlichen Anforderungen angepasst wurde. Die höhere Expression des RBR1 während der Embryogenese in Volvox zusammen mit der Beobachtung der Zellgrößenveränderung bei den Transformanten lässt vermuten, dass RBR1 an der Bestimmung der Zellgröße während der Zellteilung beteiligt ist. Die Messung der Zellgröße ist für die zeitliche Lokalisation der asymmetrischen Zellteilung im sexuellen und asexuellen Lebenszyklus von Volvox und darüber hinaus für die Bestimmung des Schicksals der Zellen nach der asymmetrischen Zellteilung (ob sie sich zu Gonidien oder zu Somazellen entwickeln) sehr bedeutend.
Weiterhin wurden im Rahmen dieser Arbeit zwei Channelrhodopsine (CHR1 und CHR2) identifiziert und charakterisiert. Diese beiden Channelrhodopsine von Volvox zeigen Homologie zu den bekannten Bakteriorhodopsinen, die sich durch eine Ionen-Kanal-Aktivität auszeichnen. Die Real Time RT-PCR-Analyse zeigte, dass CHR1 und CHR2 fast ausschließlich in Somazellen exprimiert werden. Die Expression beider Gene ist während der Embryogenese, wenn die Zelldifferenzierung beginnt, sehr hoch und reagiert auf Umgebungsfaktoren wie Temperatur und Licht. Die Daten zeigen, dass CHR1 und CHR2 neben der Beteiligung bei den lichtinduzierten Reaktionen in Volvox, auch bei der Zelldifferenzierung eine zusätzliche Rolle spielen.
In den zwei Zelltypen von Volvox wird die Photosynthese auf verschiedene Art und Weise reguliert. Bezüglich der Zelltyp-spezifischen Regulation der Photosynthese in Gonidien und Somazellen, wurde das NAB1-Gen (nucleic acid binding) im Rahmen dieser Arbeit charakterisiert. Die zwei Spleißvarianten dieses Gens zeigen eine Zelltyp-spezifische Expression. Die erste Spleißvariante ist Gonidien-spezifisch und die zweite Spleißvariante ist Soma-spezifisch. Die Aminosäuresequenz von NAB1 zeigt, dass dieses Gen zwei RNA-Bindedomänen (CSD und RRM) besitzt. Weiterhin konnte durch die Identifizierung der 14 LHCBM-Gene in Volvox gezeigt werden, dass sie in ihrer mRNA eine CSD-Konsensussequenz besitzen, die als Bindungsstelle der CSD-Domäne des NAB1 dient. Die Expression der LHCBM-Gene wird vermutlich durch zwei zellspezifische NAB1-Spleißvarianten in beiden Zelltypen unterschiedlich kontrolliert.