Theorie:
Implizite soziologische Theorie in der Geschichtsforschung und explizite soziologische Theorie befassen sich mit der Frage: Warum beobachten wir Unterschiede des Viktimisierungsumfangs in regionalen genozidalen Entscheidungsprozessen? Eine soziologische Beobachtung wird angestrebt, indem die alten Forschungsfragen reformuliert werden. Die organisationalen Entscheidungsprozesse werden im Rahmen der garbage can-Entscheidungstheorie analysiert. Die vier Entscheidungsströme des garbage can-Modells ermöglichen einen Blick auf die gesamten Prozesse des Entscheidens von Organisationen hin bis zu ihrer Kopplung zur genozidalen Entscheidung. Theorien über persönliche Netzwerke und brokerage sowie über Demokratie und Nationalismus ermöglichen die Bildung von Forschungsfragen und Hypothesen über die Rettung und Tötung von Teilpopulationen bei Genoziden.
Hypothesen:
H1: Anti-Opfer-Orientierung bei der Koordination genozidaler Fachpolitiken ist nicht nötig, um bestimmte Populationen genozidal zu viktimisieren.
H2: Restbestände an Demokratie verhindern Völkermord, wenn solche semi-demokratischen Verhältnisse durch brokerage ergänzt werden.
H3: Organisierter Judenmord wird nicht nur durch Antisemitismus, sondern auch durch ethnischen Nationalismus gefördert.
Methode:
Die Hypothesen werden in einer Zwei-Fallstudie zum Holocaust überprüft: die erste Hypothese bezieht sich auf die eigentliche Entscheidungsfindung zur Tötung von 20 000 Juden aus Alt- und Neubulgarien. Zur ersten Hypothese wird eine unterstützende Sub-Hypothese formuliert, die sich auf den Fall der Tötung bezieht (H 3). Die zweite Hypothese wird am Fall der Rettung der altbulgarischen Juden im Unterschied zum Fall der Tötung der neubulgarischen Juden getestet. Daten werden den bisherigen Studien entnommen. Durch eine Recherche in bulgarischen Archiven werden zusätzliche Daten gewonnen.
Ergebnisse:
(H 2) Bei genozidalen Entscheidungen erweist sich die Verbindung von brokerage und Demokratie als rettend. (H 3) Ihr Fehlen dagegen, in Kombination mit ethnischem Nationalismus, kann zu einer endgültigen genozidalen Kopplung der vier Entscheidungsströme führen. (H 1) Anti-Opfer-Orientierungen können zwar bei unterschiedlichen Organisationen im genozidalen Entscheidungsprozess beobachtet werden, sind aber nicht maßgebend für das Zusammentreffen der vier Entscheidungsströme. Die endgültige Entscheidung, Opferpopulationen genozidal zu viktimisieren, kann als Bezugnahme der Entscheidungsträger auf mehrere Interessenkonstellationen betrachtet werden, die man nicht auf eine explizite Anti-Opfer-Orientierung zurückführen kann.