Inwieweit verschiedene Personenvariablen einen Einfluss auf das Textverstehen haben, stand im Mittelpunkt dieser Studie. Diese bewegt sich dabei in einem Überschneidungsbereich von Linguistik, Kognitiver und Pädagogischer Psychologie. Es werden Textmerkmale genauso betrachtet wie Lernermerkmale und ihre jeweiligen Auswirkungen auf die mentale Repräsentation des entsprechenden Textes. In Studien zum Textverstehen werden selten sogenannte natürliche Texte eingesetzt. Eher finden sich kurze, speziell für die jeweiligen Experimente konstruierte Texte, mit denen sich zwar Störeffekte leichter kontrollieren lassen, die jedoch eine geringere ökologische Validität aufweisen. Um dieser Forderung zu entsprechen, wurde in der vorliegenden Studie ein "natürlicher" Text von 915 Wörtern Länge eingesetzt.
Wie sich die Personenmerkmale Arbeitsgedächtniskapazität, Vorwissen und Interesse auf das Verstehen des Textes "Wie ein Blitz entsteht" auswirken - im Sinne kompensierender oder verstärkender Einflüsse - war eine zentrale Frage dieser Studie. Es wurden noch zwei experimentelle Variablen in die Untersuchung einbezogen: das erneute Lesen und die zeitliche Verzögerung. Im Folgenden sollen die genannten Variablen kurz erläutert werden.
Als Stichprobe wurden N=88 Studierende der Universität Bielefeld rekrutiert. Davon waren 58 Frauen und 30 Männer. Das Alter lag zwischen 18 und 45 Jahren. Alle Teilnehmer absolvierten dreimal die Tests zum Textverstehen, wie sie oben beschrieben worden sind; zwei zum zweiten Testtermin, den dritten ca. eine Woche später.
Es zeigte sich, dass keine der untersuchten Variablen einen Haupteinfluss auf die mentale Repräsentation, die Reaktionszeiten oder die Lesezeiten ausübte. Zwar konnte sich kein Haupteffekt als statistisch bedeutsam herauskristallisieren, jede einzelne der untersuchten Variablen spielte jedoch eine spezielle Rolle im Zusammenhang mit anderen Variablen. Die Interaktionen, die einen signifikanten Einfluss auf die mentale Repräsentation des Textes hatten, wurden dahingehend geprüft, ob sich dahinter kompensierende oder verstärkende Effekte in Bezug auf das Verstehen des Textes finden ließen. Im Folgenden werden in Kürze einige Ergebnisse, unterteilt in die drei abhängigen Variablen mentale Repräsentation, Lese- und Reaktionszeiten, dargestellt.
Mentale Repräsentation: Nachdem alle Probanden die Verstehenstests bereits einmal absolviert hatten, ergaben sich folgende Ergebnisse. Sowohl die Faktoren Arbeitsgedächtnis, Interesse und Zeitliche Verzögerung als auch die Faktoren Arbeitsgedächtnis, Interesse und Erneutes Lesen hatten einen gemeinsamen Einfluss auf die situative Repräsentation des Textes. Besondere Bedeutung erfährt hier die kompensierende Wirkung von Arbeitsgedächtnis und Interesse.
Lesezeiten: Die Lesezeiten des zweiten Lesedurchgangs wurden zum einen vom Faktor Vorwissen bestimmt. Probanden mit höherem Vorwissen lasen den Text langsamer. Zum anderen wurde die Lesegeschwindigkeit beim zweiten Lesedurchgang von den Faktoren Arbeitsgedächtnis, Vorwissen und Interesse beeinflusst.
Reaktionszeiten: Zum zweiten Messzeitpunkt zeigten sich die folgenden Ergebnisse. Die Faktoren Arbeitsgedächtnis und Erneutes Lesen beeinflussten gemeinsam die Entscheidungszeit bei der Darbietung von Paraphrasen. Die Faktoren Interesse und Erneutes Lesen beeinflussten die Reaktionszeiten bei den Originalsätzen und den falschen Sätzen. Die Faktoren Vorwissen, Erneutes Lesen und Zeitliche Verzögerung hatten einen Einfluss auf die Reaktionszeiten bei den Paraphrasen und den falschen Sätzen.