In einer explorativen Analyse der Altgedächtnisleistungen von Patienten mit retrograden Amnesien werden selektive quantitative und qualitative Störungen des Gedächtnisses aufgezeigt. Hierzu wurden episodische und semantische retrograde Gedächtnisdefizite an Patienten mit organisch, psychogen oder gemischt organisch-psychogen bedingter Amnesie untersucht und die Gemeinsamkeiten zwischen diesen Patienten herausgearbeitet. Neben strukturellen Läsionen können auch weitere, funktionelle Veränderungen, z.B. in Form gestörter Stoffwechselprozesse gefunden werden, die unter Umständen zu fehlerhaften Einspeicherungs- oder Abrufmechanismen in den entsprechenden Hirnregionen führen können.
Untersucht wurde, ob sich im Altgedächtnisbereich selektive Beeinträchtigungen unterschiedlicher Gedächtnissysteme aufzeigen lassen und neben der klassischen inhaltlichen Differenzierung alternative Unterteilungen, wie z.B. nach affektiver Wertigkeit oder nach anderen Qualitäten innerhalb eines Gedächtnissystems, nachzuweisen sind.
Um die Gedächtnisleistungen adäquat erfassen zu können, wurden zusätzlich zu bestehenden Testverfahren neue Messinstrumente für den Bereich der Altgedächtnisdiagnostik entwickelt, standardisiert und validiert.
Das Bielefelder Autobiographische Gedächtnis Inventar (BAGI) dient der differenzierten Erfassung unterschiedlicher autobiographischer Erinnerungsleistungen. Neben einer Unterscheidung hinsichtlich semantisierter und episodisch-singulärer autobiographischer Gedächtnisinhalte lassen sich Indizes zu Affekt, Bildhaftigkeit und Originalität der Erinnerung bilden. Der Zeitraum der autobiographischen Erinnerungslücken und der zeitliche Gradient der Amnesie kann mit dem BAGI ebenfalls bestimmt werden.
Zur Erfassung der semantischen Altgedächtnisleistungen für Gesichter und Namen wurde ergänzend zu bestehenden Verfahren der Bielefelder Famous Faces Test (BFFT) entwickelt, ein Verfahren zur Einschätzung semantischer zeitlich und örtlich gebundener Altgedächtnisleistungen.
Mit Hilfe dieser und bestehender Verfahren wurden die Leistungen von unterschiedlich geschädigten Patienten mit vorliegender retrograder Amnesie verglichen. Die Gesamtleistungen dieser Gruppe wurden zwei Kontrollgruppen gegenübergestellt, einem gesunden nach soziodemographischen Daten angepassten Referenzkollektiv sowie einer fokal unilateral geschädigten Patientengruppe nach neurochirurgischem Eingriff in gedächtnisrelevanten Hirnarealen.
Es zeigte sich, dass die Patienten mit retrograden Einbußen in allen kognitiven Leistungen bedeutsam schlechter waren als ihre gesunden Vergleichsprobanden. Aufgrund ihrer umfassenden multiplen Hirnschädigungen war eine Gesamtreduktion der Leistungen zu erwarten. Im Vergleich zu fokal unilateral hirngeschädigten Patienten zeigten sie vor allem bedeutsame Altgedächtnisreduktionen. Die fokal fronto-temporal geschädigten Patienten unterschieden sich hingegen in ihren retrograden Gedächtnisleistungen nicht von den Gesunden. Somit ist davon auszugehen, dass in den meisten Fällen eine selektive unilaterale Hirnschädigung nicht hinreichend ist, um eine retrograde Amnesie zu bedingen, sondern eine bilaterale oder diffus axonale Schädigung notwendig ist. Aufgrund der Heterogenität der Patienten mit retrograder Amnesie zeigten sich ausschließlich auf Einzelfallebene Dissoziationen hinsichtlich unterschiedlicher Altgedächtnisleistungen für die einzelnen Patienten. Mehr als die Hälfte der Patienten wiesen Gradienten für episodisch-autobiographische Leistungen bei insgesamt reduzierten autobiographischen Erinnerungsleistungen auf, hingegen keinen Gradienten für datierbare semantische Altgedächtnisleistungen. Die semantischen Altgedächtnisleistungen waren am wenigsten von der Amnesie betroffen. Es bestand bei den meisten Patienten eine Dissoziation zwischen freier Abrufleistung und Rekognitionsleistung.
Prototypisch konnte anhand von drei Patientenbeispielen gezeigt werden, wie unterschiedlich sich die Altgedächtnisstörungen bei Patienten mit organisch, psychogen und gemischt organisch-pychogen bedingten Amnesien darstellen.
Das Problem der Generalisierbarkeit der Patientenergebnisse führt zu verschiedenen Schlussfolgerungen hinsichtlich Forschung und Klinik:
Funktionale Zusammenhänge von den verschiedenen Altgedächtnisprozessen und -entitäten, sowie deren Zusammenhänge mit Selbstkonzept, Affekt und Visualisierungsfähigkeit müssen innerhalb von psychologischen und medizinischen Forschungsparadigmen weiter spezifiziert werden, um für die Praxis valide Untersuchungsinstrumente und individuelle therapeutische Maßnahmen abzuleiten.