Die Arbeit bietet eine neue, grundlegend multimodale Perspektive auf Face-to-Face-Interaktion am Beispiel des Untersuchungsgegenstands "Unterrichtskommunikation". Ausgehend von Daten (Videoaufnahmen, Tafelinskriptionen, Schülerheften) aus immersivem Geschichtsunterricht in Deutschland und Argentinien (Unterrichtssprache Französisch bzw. Deutsch) werden mit der Methode der ethnomethodologischen Konversationsanalyse (KA) drei - bislang in der umfangreichen Forschung zur Unterrichtskommunikation unberücksichtigte - Themenbereiche herausgearbeitet und sequenzanalytisch untersucht: (1) Multimodale Verfahren (u.a. Konzept-Gesten) der Bearbeitung von lokal auftretenden sprachlichen Problemen; (2) die interaktive Emergenz von Tafelaufzeichnungen und ihre Rolle als Ressource für das Herstellen von interaktiven Anschlussmöglichkeiten; (3) die interaktive Koordinierung des "offiziellen" Unterrichtsdiskurses mit den "privaten" Mitschreibaktivitäten der Schüler und unter welchen Bedingungen dieses zu fehlerhaften Schüler-Mitschriften führen kann.
Über die Rekonstruktion dieser konkreten Teilnehmer-Methoden und ihrer interaktiven "Risiken und Nebenwirkungen" hinaus, bietet die Arbeit neue konzeptuelle und methodologische Implikationen für eine multimodal orientierte Gesprächsforschung: (1) Das Phänomen der "Gleichzeitigkeit von Aktivitäten" wurde in der KA bislang als Simultaneität verbaler Gesprächsbeiträge - d.h. als zu minimisierender "overlap" (Schegloff 2000; 2001) - diskutiert. Demgegenüber wird ein neues Konzept von "Parallel-Aktivitäten" vorgeschlagen, das die Spannbreite des multimodal konzipierten Phänomenbereichs umreißt und innerhalb dessen sich das traditionelle Konzept des "overlap" als ein Sonderfall erweist. - (2) Es wird gezeigt, dass die zentrale methodische Ressource der "Rekonstruktion der Teilnehmer-Interpretation" von interaktiven Ereignissen in Form des verbalen "next turn" teilweise einen Artefakt der Limitierung durch Audio-Aufnahmen darstellt. Vielmehr lässt sich anhand von Video-Daten eine permanente "on line"-Interpretation der Partizipienten beobachten, so dass der traditionelle "next turn" als Komponente eines "on-line"-Turn zu konzeptualisieren ist. Dieses führt zu einem vielschichtigeren und dynamischeren Konzept von Teilnehmer-Interpretationen und hat Konsequenzen für die methodologische Orientierung der Konversationsanalyse. - (3) Um die funktionale Rolle und gesprächsstrukturellen Implikationen materieller Strukturen und Objekte (wie z.B. Tafelinskriptionen, Mitschriften etc.) analytisch adäquat berücksichtigen zu können, wird das in der Actor-Network-Theory entwickelte Konzept der "Intermediären Objekte" (Jeantet 1998; Vinck 1999) für Face-to-Face-Interaktion fruchtbar gemacht. Es wird gezeigt, dass materielle Strukturen durch die Behandlung in der Interaktion "Leerstellen" enthalten, dadurch für Interaktionsteilnehmer nächste Handlungen relevant setzen und so lokal handlungsfordernd werden. In diesem Sinne fungieren sie als "Ko-Akteure" in interaktiven Arbeitsprozessen. Dieser Befund ruft dazu auf, die gesprächsanalytische und konversationsanalytische Perspektive auf die Rolle von Objekten und andern materiellen Strukturen als Teil interaktiver Prozesse neu zu überdenken.