Vor dem Hintergrund der biolinguistischen Perspektive von Locke (1993, 1994, 1997) werden die Auswirkungen der Unreife bei der Geburt bzw. der damit verbundenen medizinischen Komplikationen auf die Sprachentwicklung untersucht. Die Zusammenhänge zwischen sprachlichen und intellektuellen Fähigkeiten werden betrachtet. Des Weiteren stellt sich die Frage nach dem prognostischen Wert früher Sprachmaße für die spätere Sprachentwicklung. Im Rahmen eines kombinierten Quer-Längsschnittdesigns wurden insgesamt 50 unreif geborene Kinder mit Sprachentwicklungstests (SETK-2 bzw. SETK 3-5) sowie allgemeinen Entwicklungs- und Intelligenztests (Items des BSID-II; WET; K-ABC) im Altersbereich von zwei bis fünf Jahren untersucht. Neben den biologischen Risikofaktoren Geburtsgewicht und Gestationsdauer wurden die aufgetretenen medizinischen Komplikationen erfasst und ein medizinischer Indikator der Risikobelastung (MIR) gebildet. Dabei handelt es sich um einen gewichteten Summenwert klinisch bedeutsamer Einzelrisiken. Der MIR ist im Vergleich zum Geburtsgewicht und zur Gestationsdauer ein geeigneterer Prädiktor der späteren sprachlichen Fähigkeiten. Nach ihrem Risikopunktwert im MIR lassen sich drei Subgruppen unreif geborener Kinder identifizieren, die unterschiedliche Sprachleistungsprofile zeigen. Die Subgruppenunterschiede in den Sprachleistungen sind nicht auf Intelligenzunterschiede zurückführbar und haben sich als äußerst zeitstabil erwiesen. Dabei ist der prognostische Wert von frühen Sprachmaßen bei Kindern mit hoher biologischer Risikobelastung größer als bei gering risikobelasteten Kindern.
Aus den Ergebnissen werden Implikationen für eine medizinisch-psychologisch orientierte Frühgeborenenforschung sowie für den diagnostischen Prozess bei biologischen Risikokindern abgeleitet.