Das autobiographische Gedächtnis umfasst im Vergleich zum semantischen Gedächtnis emotional bedeutsame, selbstbezogene Erinnerungen, die in einen Raum- und Zeitkontext eingebettet sind. Das autobiographische Gedächtnis ermöglicht eine mentale Zeitreise in die persönliche Vergangenheit. Das semantische Gedächtnis enthält Ereignisse des Weltgeschehens oder auch Allgemeinwissen.
In der vorliegenden Arbeit wurden erstmalig die neuronalen Korrelate autobiographischen Erinnerns bei Adoleszenten und jungen Erwachsenen zeitspezifisch untersucht. Der Abruf aus dem autobiographischen Gedächtnis wurde mit Ereignissen aus dem Weltgeschehen verglichen. Es wurden 16-jährige Schülerinnen und 21-jährige Studentinnen untersucht. Es nahmen jeweils 15 Probandinnen pro Gruppe teil.
Mittels autobiographischer Interviews wurden detaillierte, emotional bedeutsame Lebensereignisse aus der Kindheit ab dem 3. Lebensjahr bis zur unmittelbaren Lebensphase des letzten Jahres herausgearbeitet. Anhand der Interviews erfolgte für jede Probandin eine individuelle Zusammenstellung von 36 Sätzen pro Lebensphase, die während der fMRT-Untersuchung einige Wochen später auditiv dargeboten wurden. Analog zu den 36 autobiographischen Stimuli pro Lebensphase wurden 36 Ereignisse aus dem Weltgeschehen, die u.a. Bereiche wie Politik, Medien und Sport umfassten, ebenfalls auditiv präsentiert.
Der autobiographische Gedächtnisabruf wies im Vergleich zum Abruf semantischer Gedächtnisinhalte in beiden Untersuchungsgruppen ein komplexeres und emotional verankertes Netzwerk auf. Das autobiographische Aktivierungsmuster umfasste die aus Forschungsarbeiten mit älteren Probanden bekannten Netzwerke wie medial präfrontalen und temporalen Aktivierungen, sowie eine Beteiligung des retrosplenialen Cortex (RSC) und des Cerebellums. Das Netzwerk war insgesamt eher bilateral ausgerichtet mit einer stärkeren linkshemisphärischen Tendenz. Einen Schwerpunkt der Arbeit lieferten vor allem die erstmalig zeitspezifischen Analysen an Adoleszenten und jungen Erwachsenen. In beiden Gruppen zeigte sich ein signifikanter Unterschied zwischen rezenten und frühen Kindheitserinnerungen. Unabhängig von der Gedächtnisart konnte bei den jungen Erwachsenen eine signifikant erhöhte Aktivität der bilateralen retrosplenialen Cortices für rezente Erinnerungen beobachtet werden. Auf einem weniger konservativen Signifikanzniveau zeigte sich zudem auch eine Beteiligung des MPFC beider Hemisphären. Bei den Adoleszenten waren zwar ebenfalls beide Strukturen involviert, jedoch fast ausschließlich auf einem weniger konservativen Signifikanzniveau.
Schließlich zeigte sich für den autobiographischen Gedächtnisabruf ein bedeutsamer Interaktionseffekt zwischen Gedächtnisart und Zeit: Der MPFC war in beiden Gruppen differentiell für den Abruf rezenter autobiographischer Erinnerungen bilateral aktiviert. Während der MPFC bei den jungen Erwachsenen auf höchstem Signifikanzniveau aktiviert war, manifestierte sich diese Beteiligung bei den Adoleszenten auf einem weniger konservativen Signifikanzniveau.
Im Rahmen einer Nachbefragung im direkten Anschluss an die fMRT-Messung wurden der Abruferfolg und die emotionale Bedeutsamkeit der autobiographischen und semantischen Ereignisse erfasst. Autobiographische Erinnerungen wurden erfolgreicher abgerufen und waren emotional bedeutsamer als semantische Gedächtnisinhalte. Die differentielle Aktivierung im MPFC wurde nicht maßgeblich durch den Abruferfolg oder die emotionale Bedeutsamkeit beeinflusst.
Die Ergebnisse liefern erstmalig Einblick in die neuronalen Korrelate autobiographischen Erinnerns bei Adoleszenten und jungen Erwachsenen im Zeitverlauf. Die vorliegende Studie ist darüber hinaus die erste, die auch eine zeitmodulatorische Funktion des RSC in Zusammenhang mit semantischem Gedächtnisabruf aufweist. Der RSC war in der vorliegenden Studie bei beiden Altersgruppen stärker für die Dissoziation zwischen dem Abruf rezenter und Kindheitsereignissen verantwortlich als für die Dissoziation zwischen Autobiographie und Faktenwissen.
Die spezifische Aktivität des MPFC bei rezenten autobiographischen Erinnerungen ist Ausdruck emotionaler Bedeutsamkeit, zeitlicher Verarbeitung und selbstbezogener Prozesse. Diese verschiedenen Prozesse scheinen beim autobiographischen Abruf rezenter Ereignisse bei jungen Menschen besonders beteiligt zu sein und finden eine Integration im MPFC. Die Spezifität des medialen präfrontalen Areals zeigte sich bei Adoleszenten weniger ausgeprägt, was durch das geringere Signifkanzniveau deutlich wurde. Die Entwicklung einer stabileren Identität und eines stabileren Selbstkonzepts wird durch die neuronale Ausreifung des MPFC begleitet.
Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit beim autobiographischen Gedächtnisabruf sind Ausdruck eines komplexen mentalen Geschehens, das vielseitige Prozesse gleichzeitig aktiviert, die alle wesentlich vom MPFC abhängen. Es scheint, als nehme die MPFC-Aktivität mit zunehmendem Erwachsenwerden zu.