Emotionen und Gedächtnis sind Voraussetzungen dafür, um als integrierte Persönlichkeit existieren sowie die Anforderungen des Alltags bewältigen zu können. Zahlreiche Studien belegen, dass die Amygdala eine kritische Rolle bei der Verarbeitung emotionaler - vor allem negativer - Stimuli und bei der Enkodierung und Konsolidierung von emotionalem Material mit einem hohen Arousalgrad einnimmt. Bislang sind jedoch nur einige wenige Einzelfallstudien bekannt, die Veränderungen der Emotionsverarbeitung und des emotionalen Gedächtnisses bei Patienten mit selektiven bilateralen Amygdalaläsionen untersuchen. In der vorliegenden Studie werden die Leistungen von zehn Urbach-Wiethe-Patienten mit bilateralen Amygdalaläsionen beim Erkennen von Emotionen in Gesichtsausdrücken und von emotionalen Prosodien sowie die Erinnerungsleistung für emotionales im Vergleich zu neutralem Material erhoben und mit den Leistungen einer Kontrollgruppe verglichen.
Es zeigt sich, dass die Patienten Ähnlichkeiten zwischen emotionalen Gesichtsausdrücken unabhängig davon, ob deren faziale Muster gleichartig oder sehr unterschiedlich sind, in der Regel als höher bewerten als die Kontrollprobanden. Dieses Beurteilungsmuster findet sich für negative wie positive Emotionen zeigende Gesichter. Ferner sind die Patienten leichtgradig in der Erkennung negativer und positiver emotionaler Prosodien beeinträchtigt.
Die beiden Gruppen unterscheiden sich auch in ihren mnestischen Leistungen für emotionales Material. Die Patienten lernen weniger Geruch-Figur-Assoziationen und können diese schlechter abrufen. Auch bestehen Einbußen seitens der Patienten, visuelle - vor allem negative und positive - Stimuli zu erinnern. Die Annahme, dass Urbach-Wiethe-Patienten mit bilateralen Amygdalaläsionen bei emotionalen Verarbeitungsprozessen und in ihren mnestischen Leistungen für emotionale Stimuli beeinträchtigt sind, hat sich bestätigt. Die Befunde legen nahe, dass die Amygdala nicht nur eine Flaschenhalsstruktur für die Verarbeitung negativer sondern auch für diejenige positiver Stimuli ist und dass sie die Enkodierung und Konsolidierung negativer wie positiver emotionaler Inhalte mit einem hohen Arousalgrad entscheidend beeinflusst.
Darüber hinaus zeigt der Gruppenvergleich, dass die Urbach-Wiethe-Patienten in weiteren kognitiv-mnestischen Funktionen schlechtere Leistungen erbringen als die Kontrollprobanden. Innerhalb der Patientengruppe besteht jedoch eine weitaus höhere Leistungsvariabilität als innerhalb der Kontrollgruppe.
Bislang ist nicht geklärt, warum bei einigen Urbach-Wiethe-Patienten mit bilateralen Amygdalaläsionen weitreichende kognitiv-mnestische Defizite auftreten, während andere in diesen Fähigkeiten unbeeinträchtigt sind. Auch ist unklar, welche kognitiven Strategien bei der Kompensation ausgefallener Fähigkeiten für das Erkennen emotionaler Gesichtsausdrücke am meisten beteiligt sind. Weitere Studien sind notwendig, um den Einfluss von Faktoren, wie z.B. das Schädigungsalter und das Schädigungsausmaß, auf die genannten Leistungen zu untersuchen.