Das Kindergartenwesen ist in einigen Ländern längst als Elementarbereich des gesamten Bildungswesens anerkannt. Gerade in diesem Elementarbereich gab es kürzlich einen großen Wendepunkt in einigen Ländern, vor allem in Deutschland und in Taiwan. In Deutschland hat das Thema Kindergartenwesen durch den "PISA-Schock" aus dem Jahr 2000 wieder an Aktualität gewonnen. Neben schulischen Änderungen erfolgten auch einige Reformmaßnahmen im Kindergartenbereich. Zudem wurde im Jahr 2003 in Nordrhein-Westfalen die Bildungsvereinbarung zwischen den Vertretern der freien und der öffentlichen Träger der Kindergärten abgeschlossen, das Schulfähigkeitsprofil als Empfehlung vom Ministerium für Schule, Jugend und Kinder NRW für die Bildungsarbeit in Kindergärten veröffentlicht und die Sprachförderung im Kindergartenbereich eingeführt. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit dafür, dass bestimmte Bildungsinhalte im Elementarbereich, dessen Begriff sonst als Leerformel erscheint, angeboten werden müssen, damit den Kindergartenkindern die für die Entwicklung der Schulfähigkeit benötigten Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt werden können. In Taiwan lenkte die Bildungsreform in den 1990er Jahren die öffentliche Aufmerksamkeit auf das Kindergartenwesen, besonders durch die Einführung des Gutscheins für Fünfjährige zum Besuch einer legalen privaten Vorschuleinrichtung in Taipeh im Jahr 1998. Dies führte dazu, dass die Verbesserung des Kindergartenwesens in die begonnene Bildungsreform aufgenommen wurde. Auch einige provokante Vorschläge wie z.B. die Verstaatlichung der Kindergärten oder die Verpflichtung zum Kindergartenbesuch, wurden im Rahmen der Reform vorgestellt. Daraus wird ersichtlich, dass in Taiwan versucht wird, die elementare Position des Kindergartenwesens im gesamten Bildungswesen nicht nur durch die formale Anerkennung, sondern auch durch eine strukturelle Änderung zu konsolidieren.
Dies verdeutlicht, dass in beiden Ländern aufgrund unterschiedlicher auslösender Ereignisse und Zeitpunkte die Aufmerksamkeit auf das Kindergartenwesen gelenkt und damit dessen Integration in die aktuelle Bildungsreform ausgelöst wurde. Aufgrund dieser Unterschiede ist es interessant zu vergleichen, wie und inwieweit sich das Kindergartenwesen im gesamten Bildungssystem als elementare Bildungsstufe über die Jahre in den beiden Ländern etabliert hat. Dabei wird der theoretische Ansatz von Kaufmann über den "Mehrebenen-Charakter der Wohlfahrtsproduktion" (Kaufmann 1994: 357-380) herangezogen. In der vorliegenden Arbeit wird dieser Ansatz auf die institutionelle, die organisatorische und die interaktive Ebene beschränkt. Bezüglich der institutionellen Ebene wird auf die Zielsetzung der staatlichen Kindergartenpolitik konzentriert. Die Betrachtungsweise der organisatorischen Ebene bezieht sich auf die Schaffung der zur Durchführung der staatlichen Kindergartenpolitik benötigten pädagogischen Rahmenbedingungen in der bestehenden Trägerstruktur des Kindergartenwesens. Bezüglich der interaktiven Ebene wird die Gewährleistung besserer pädagogischer Arbeit in den Kindergärten unter den vorgegebenen pädagogischen Rahmenbedingungen untersucht.
Zur organisatorischen Ebene sind im Bereich der Erziehungswissenschaften keine Forschungsarbeiten in beiden Ländern zu finden. In Bezug auf die institutionellen und interaktiven Ebenen sind dagegen zahlreiche Forschungsarbeiten veröffentlicht worden. Die Diskussionen bzw. Forschungsarbeiten zur institutionellen Ebene haben beabsichtigt, durch eine Strukturänderung in Kindergärten und Grundschulen dazu beizutragen, einen Kindergartenbesuch für alle Vorschulkinder zu ermöglichen. Da jedoch die bestehende Trägerstruktur auf der organisatorischen Ebene nicht ausreichend berücksichtigt wurde, ist diese Strukturänderung gescheitert. Die zur interaktiven Ebene veröffentlichten Forschungsarbeiten haben sich ausschließlich darauf konzentriert, wie die pädagogische Arbeit in Bezug auf das Curriculum, die pädagogische Qualität und Übergänge zu anderen Institutionen auf dieser Ebene verbessert werden kann. Dabei wurden allerdings die für ein erfolgreiches pädagogisches Geschehen benötigten pädagogischen Rahmenbedingungen auf der organisatorischen Ebene außer Acht gelassen, sodass die Bemühungen zur Verbesserung der pädagogischen Arbeit in Kindergärten nur begrenzt erfolgreich waren.
Wie schon angedeutet, fehlt in den bisherigen wissenschaftlichen Forschungsarbeiten über das Kindergartenwesen im Bereich der Erziehungswissenschaften die Betrachtungsweise aus der organisatorischen Ebene: Es wird zu wenig beachtet, dass die pädagogische Gestaltung im Kindergarten durch die geregelten pädagogischen Rahmenbedingungen bezüglich der organisatorischen Ebene stark beeinflusst wird. Mit der vorliegenden Arbeit soll versucht werden, diese Forschungslücke in den Erziehungswissenschaften zu schließen. Dabei wird dem Kindergartenwesen als Elementarbereich des gesamten Bildungswesens im erziehungswissenschaftlichen Bereich ein seiner Bedeutung angemessener Stellenwert zugewiesen. Zudem wird die im Kindergarten praktizierte Erziehung nicht als außerschulische, sondern vielmehr als vorschulische Erziehung angesehen. Der Begriff der vorschulischen Erziehung verbindet das Kindergartenwesen als Elementarbereich mit dem Grundschulwesen, wobei beide, je nach dem Entwicklungsstand und den Bedürfnissen der Kinder, kindgerecht gestaltet werden sollen. Im Kindergarten geht es zugleich um die Vorbereitung auf die kommende Einschulung.
Angesichts einer derartigen Bestimmung wird das Kindergartenwesen mit einer zu berücksichtigenden Zielvorstellung verbunden: Die Kindergärten sind allen Kindern zugänglich und an die Grundschulen anschlussfähig zu machen, und den Kindern sind in ihnen durch die kindgerechte pädagogische Gestaltung die zur Entwicklung der Schulfähigkeit benötigten Fähigkeiten und Fertigkeiten zu vermitteln. Diese Zielvorstellung richtet sich ausschließlich an Bildungspolitikerinnen und Bildungspolitiker, mit der Anregung, diese in Zukunft bei der Planung und Durchsetzung der bildungspolitischer Maßnahmen zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit des Kindergartenwesens zu berücksichtigen. Zur Konkretisierung der genannten Zielvorstellung werden gleichzeitig drei aufeinander bezogene Ansprüche an das Kindergartenwesen gestellt: 1.) der Anspruch auf die Gleichheit der Zugangschancen zum Kindergartenbesuch, 2.) der Anspruch auf eine bessere pädagogische Strukturqualität, 3.) der Anspruch auf die Anschlussfähigkeit an das Grundschulwesen.
Es scheint sinnvoll zu sein, die Möglichkeiten zur Erfüllung der genannten Ansprüche an das Kindergartenwesen und die ihnen entgegenstehenden Beschränkungen auf der Grundlage eines internationalen Vergleichs zu untersuchen. Es ist selbstverständlich, dass die ausländischen Erfahrungen angesichts der verschiedenen bildungspolitischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen nicht kritiklos zur Problemlösung und zur Leistungssteigerung auf das eigene Land übertragen werden sollten. Jedoch können sie zu deren Möglichkeiten beitragen. Diese auf einem internationalen Vergleich beruhende Forschungsarbeit dient ausschließlich der Anregung einer neuen Kindergartenpolitik in beiden Ländern (Taiwan und Deutschland) im Sinne der Erziehungswissenschaft. Im Weiteren soll diese Arbeit zur Verwirklichung der in dieser Arbeit entwickelten Zielvorstellungen - die Schaffung eines an das Grundschulwesen anschlussfähigen und allen Kindern zugänglichen Kindergartenwesens mit kindgerechter pädagogischer Gestaltung - beitragen. Außerdem eröffnen die im Rahmen dieser Arbeit entwickelten Zielvorstellungen viele neue Forschungsgebiete.