Neglect bezeichnet eine Verhaltensstörung, die vor allem durch das Nichtbeachten von Reizen in der kontraläsionalen Raum- oder Körperhälfte gekennzeichnet ist. Bisherige Neglecttheorien erklären, wie es zum Neglect kommt, und beruhen auf Untersuchungen, die vom Patienten die explizite, bewusste Verarbeitung von Informationen aus dem kontraläsionalen Gesichtsfeld erfordern. Ob und ggf. welche Verarbeitung im vernachlässigten Halbfeld stattfindet, wird hingegen nicht thematisiert.
Anhand bisher vorliegender Studien zu dieser Frage wird deutlich, dass die Reizverarbeitung auf einem perzeptiven und sogar lexikalisch-semantischen Level erfolgen kann, ohne aber die Qualität bewusster Wahrnehmungserlebnisse zu erreichen (implizite vs. explizite Verarbeitung).
Da das Gesamtbild der impliziten und expliziten Verarbeitung beim Neglectsyndrom aufgrund der heterogenen Untersuchungsanordnungen jedoch eher uneinheitlich erscheint, war es das primäre Ziel dieser Arbeit, die verschiedenen Verarbeitungsleistungen von Neglectpatienten mit einer einheitlichen Methode zu untersuchen.
Ein in einer studentischen Stichprobe (N = 24) entwickeltes Untersuchungsparadigma wurde bei einer älteren gesunden Kontrollstichprobe (A-Gruppe; N = 20) sowie bei Patienten (N = 20) mit leicht- bis mittelgradiger Neglectsymptomatik angewendet. In streng vergleichbaren Versuchsanordnungen wurden verschiedene visuelle Stimulusmaterialien (Wörter, Bilder, Gesichter) verwendet. Zur Untersuchung impliziter Verarbeitung wurden in einer semantischen Kategorisierungsaufgabe für alle Materialien Wiederholungsprimingeffekte und semantische Primingeffekte erhoben. Gleichzeitig wurden Hemisphärenasymmetrien mittels lateraler Prime- und zentraler Targetdarbietung untersucht. Als abhängige Variablen dienten v.a. Reaktionszeiten und Primingprozentwerte. Die explizite Verarbeitung wurde mit einer verzögerten Diskriminationsaufgabe für Wörter, Bilder und Gesichter erfasst.
Im Rahmen der Fragestellung 1 wurden Alters- und Bildungseinflüsse auf die Stabilität der Effekte des Paradigmas überprüft (Vergleich der A-Gruppe mit einem Teil der studentischen Stichprobe N = 20; J-Gruppe). In der impliziten Bedingung zeigten sich bei den Reaktionszeiten in beiden Gruppen Wiederholungsprimingeffekte für alle Materialien. Weiterhin fand sich ein tendenziell negativer semantischer Primingeffekt für alle Materialien, ohne Gesichtsfeldeffekte. Bilderstimuli wurden in der semantischen Kategorisierungsaufgabe am schnellsten verarbeitet, Gesichterstimuli am langsamsten. Während die A-Gruppe bei den Reaktionszeiten für die Wörter signifikant langsamer reagierte, zeigten sich bei den Primingprozentwerten keine Gruppenunterschiede. In der Diskriminationsaufgabe zeigte sich ein signifikanter Materialfaktor (Bilder wurden am schnellsten verarbeitet, gefolgt von Gesichtern und Wörtern), ohne Gesichtsfeldeffekte. Die A-Gruppe reagierte insgesamt langsamer als die J-Gruppe.
Im Rahmen der Fragestellung 2 zeigte die erstmalige Anwendung des Paradigmas bei Neglectpatienten im Unterschied zur A-Gruppe bei den impliziten Leistungen (Primingprozentwerte) einen signifikanten Materialfaktor mit dem größten Primingeffekt bei den Bildern, gefolgt von Wörtern und Gesichtern. Ferner zeigten die Patienten abweichende Effekte in Form eines signifikant erhöhten (positiven) repetitiven und semantischen Primings in beiden Gesichtsfeldern bei Bildern und Gesichtern sowie im rechten Gesichtsfeld bei den Wörtern. Im linken visuellen Feld fanden sich ein nicht signifikant erhöhtes positives Wiederholungspriming sowie ein nicht signifikantes negatives semantisches Priming. Die expliziten Reaktionszeiten der Patienten waren deutlich langsamer als die der A-Gruppe. Die Patienten zeigten ferner einen tendenziellen Gesichtsfeldeffekt (verlängerte Diskriminationszeit im linken visuellen Feld). In beiden Gruppen fand sich ein Materialeffekt (Reaktion auf Bilder am schnellsten, gefolgt von Gesichtern und Wörtern). Unterschiede zwischen den Gruppen ergaben sich hinsichtlich der signikanten Unterschiede zwischen den Materialien. Die Patienten zeigten ferner im Vergleich zur A-Gruppe eine durchgehend verringerte Reaktionsgenauigkeit in beiden Gesichtsfeldern sowie (bis auf die Gesichter im rechten Gesichtsfeld) im Zufallsbereich liegende Leistungen.
Insgesamt ergeben sich in der vorliegenden Untersuchung Hinweise dafür, dass Neglectpatienten insbesondere in der impliziten Bedingung anders reagieren als gesunde Versuchspersonen. Modelle zur Erklärung der Daten, methodische Fragen sowie klinische Anwendungsaspekte werden diskutiert.