In der Studie wurden die ToM-Fähigkeiten blindgeborener Kinder erstmals umfassend, im Längsschnittdesign und theoriegeleitet erfasst. Im Fokus stand dabei die Annahme, dass blindgeborene Kinder wesentlich früher als bislang angenommen zur informatorischen Perspektivenübernahme in der Lage sind, wenn man diese Fähigkeit mit false-belief-Aufgaben überprüft, die ihren taktilen und auditiven Wahrnehmungsmöglichkeiten entsprechen. Diese blindenadäquaten Aufgaben wurden im Rahmen der Untersuchung selbst entwickelt und mit 47 geburtsblinden Kindern (aus Deutschland und Holland) durchgeführt. Die Kinder waren zum ersten Testzeitpunkt vier bis neun Jahre alt (M = 6;11) und wiesen neben der Blindheit keine weiteren Beeinträchtigungen (z.B. kognitive Defizite) auf. Die ca. 60-90 Minuten andauernde Testung umfasste neben den neun Aufgaben zur Erfassung des false-belief-Verständnisses erster Ordnung mehrere Aufgaben zur Erfassung der frühen und komplexeren Pü-Fähigkeiten sowie Gedächtnis- und Sprachentwicklungsuntertests. Zusätzlich wurden die Eltern, Erzieher, Frühförderer und Lehrer schriftlich zur sozial-kognitiven Entwicklung der Kinder befragt (v.a. zu den ToM-Vorausläuferfähigkeiten, den sozialen Einflussfaktoren und den Alltagskompetenzen). Die 13 deutschen Kinder, welche zum ersten Testzeitpunkt noch kein stabiles Verständnis für fälschliche Überzeugungen ausgebildet hatten, wurden im Abstand von sechs bis zehn Monaten erneut getestet; insgesamt gab es maximal drei Testzeitpunkte. Die zur Reduzierung eines Messwiederholungseffekts entwickelten drei Parallelversionen jeder false-belief-Aufgabe wurden an einer Stichprobe von 107 vier- und fünfjährigen sehenden Kindern auf ihre Schwierigkeit hin überprüft. Die wichtigsten Ergebnisse lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: (1) Blindgeborene Kinder können ab dem Alter von sechs Jahren zuverlässig false-belief-Aufgaben lösen. Bisherige Untersuchungen berichteten hingegen ein durchschnittliches Erwerbsalter von ca. neun Jahren. (2) Die Kinder lösten die visuell basierten false-belief-Aufgaben genauso gut wie die taktil und auditiv basierten. Dieses unerwartete Ergebnis kann weder durch einen Stichproben- noch durch einen Reihenfolgeeffekt erklärt werden und legt die Vermutung nahe, dass die Pü-Leistungen blinder Kinder in den bisherigen Studien aufgrund von hypothesengeleiteten methodischen Artefakten unterschätzt wurden. (3) Der ToM-Entwicklungsverlauf blindgeborener Kinder entspricht auf übergeordneter Ebene dem von sehenden Kindern und wird wahrscheinlich von der sozialen Umwelt beeinflusst.