Das neurale Zelladhäsionsmolekül L1 ist ein Mitglied der Immunglobulin Superfamilie und erfüllt wichtige Funktionen im sich entwickelnden und adulten Nervensystem. So ist L1 an verschiedenen Prozessen, wie der Migration und dem Überleben von Neuronen, dem Auswachsen, der Bündelung und der Wegfindung von Axonen und der synaptischen Plastizität, beteiligt. Mutationen in allen Regionen des L1 Gens können beim Menschen zu gravierenden neurologischen Syndromen des sogenannten L1 Spektrums führen. Gemeinsame Merkmale dieser Syndrome sind eine erhöhte Sterblichkeit, geistige Behinderung und verschiedene Missbildungen des Gehirns. Patienten mit Punktmutationen in der extrazellulären Domäne von L1 entwickeln häufig einen schwereren Phänotyp als solche mit Mutationen im zytoplasmatischen Bereich. Um Einblicke in die Ursachen für das häufige Auftreten von schwerwiegenden Punktmutationen in der extrazellulären Domäne zu gewinnen, wurden in dieser Studie die funktionellen Konsequenzen von Mutationen sowohl der extrazellulären als auch der intrazellulären Domäne von L1 untersucht.
Die Expression von mutierten L1 Konstrukten wurde in CHO- (chinese hamster ovarian) Zellen analysiert. Es konnte gezeigt werden, dass die pathogene L1 Punktmutation C264Y (L1C264Y), die in der extrazellulären Domäne liegt und zu einem schweren Phänotyp beim Menschen führt, nicht auf der Zelloberfläche exprimiert wird. Ähnliche Resultate ergaben sich für ein L1 Konstrukt mit einer Deletion der putativen homophilen Bindungsstelle von L1 (L1[Delta]hbs). Im Gegensatz dazu zeigte eine intrazellulär deletierte L1-Variante normale L1-Mengen auf der Zelloberfläche. Das Molekulargewicht von L1C264Y- und L1[Delta]hbs-Proteinen war reduziert, da die N-gekoppelten Oligosaccharide der Proteine keine Golgi-typische Modifikationen aufwiesen. Diese Beobachtungen lassen vermuten, dass die mutierten Proteine im endoplasmatischen Reticulum (ER) zurückgehalten und nicht weiter zum Golgi-Apparat transportiert werden.
Um die Konsequenzen einer humanpathologischen Mutation auf die Expression und Funktion von L1 in vivo zu untersuchen, wurde eine transgene Mauslinie erzeugt, in der die extrazellulär gelegene Punktmutation C264Y unter Kontrolle des L1-Promotors vor einem L1-defizienten Hintergrund exprimiert wird. In diesen Mausmutanten war das L1C264Y-Protein in neuronalen Zellkörpern lokalisiert und wies einen abnormalen Glykosylierungsgrad auf. Diese Ergebnisse stimmen mit den Befunden der Zellkultur-Untersuchungen überein. Eine phänotypische Analyse der L1C264Y-transgenen Mäuse ergab keine Unterschiede zu L1-defizienten Mäusen, d.h. beide Mutanten zeigten eine verringerte Überlebenswahrscheinlichkeit, eine Reduktion des corticospinalen Traktes, Fehler in der Wegfindung von corticospinalen Axonen, sowie abnormale unmyelinisierte Fasern in peripheren Nerven. Diese Befunde legen nahe, dass die transgenen Mäuse funktionale Null-Mutanten repräsentieren.
Die Ergebnisse der in vitro und in vivo Untersuchungen deuten darauf hin, dass eine Akkumulation des mutierten L1 Proteins im ER, gefolgt von einer Degradation des Proteins, den zugrundeliegenden molekularen Pathomechanismus der L1C264Y Mutation darstellt. Demnach könnte eine gestörte Zelloberflächenexpression ursächlich für das häufige Auftreten von schweren pathogenen Punktmutationen im humanen L1 Gen sein.