HINTERGRUND:
Die Individualentwicklung von Vorschulkindern ist nicht als isolierter, monokausaler Prozess zu verstehen, sondern vollzieht sich in Form komplexer körperlicher, psychischer und sozialer Entwicklungsschritte. Im Verlauf dieser vorschulischen Entwicklung kann es zu einzelnen oder in Kombination vorkommenden Entwicklungsverzögerungen, von denen Teilleistungsstörungen eine mögliche Variante darstellen, kommen. Es darf angenommen werden, dass eine Vielzahl von Einflussfaktoren modifizierend auf die Manifestation dieser Entwicklungsverzögerungen einwirkt. Ziel dieser Untersuchung war es, Häufigkeiten und Verlauf unterschiedlichster Entwicklungsverzögerungen zu analysieren. Ferner sollten biologische, verhaltensbedingte und verhältnisbedingte Determinanten und deren Verteilungsmuster bei Entwicklungsverzögerungen unter einem gesundheitswissenschaftlichen Ansatz retrospektiv identifiziert werden.
METHODIK:
Mittels eines modifizierten Manuals des "Bayerischen Modells" für Schuleingangsuntersuchungen wurden insgesamt 2043 Vorschulkinder der Jahrgänge 2004 und 2005 in Hinblick auf das Vorkommen von Teilleistungsstörungen begutachtet. Ergänzend wurde ein Fragebogen ausgegeben, sodass für 72,5 Prozent dieser Kinder Zusatzinformationen zum Gesundheitsverhalten und den Lebensverhältnissen gewonnen werden konnten. Durch personenbezogene Kombination von Routinedaten mit sozialepidemiologischen Zusatzdaten konnte ein gepoolter Datensatz aufgebaut werden. Unter Verwendung des Software-Pakets SPSS 14.0 erfolgte in anonymisierter Form die Datenanalyse.
ERGEBNISSE:
Die weitaus meisten Kinder machten eine intakte Individualentwicklung bis zum Zeitpunkt der Schuleingangsuntersuchungen durch.
Innerhalb der Studienpopulation [Durchschnittsalter: 5,92 Jahre; 47,0 Prozent Mädchen versus 53,0 Knaben] waren mit einer Gesamtprävalenz von 18,5 Prozent bei der Sprachlautbildung am meisten und mit 2,6 Prozent bei der Abstraktionsfähigkeit die wenigsten Teilleistungsstörungen vorhanden. Im Vergleich beider Jahrgänge zeigten sich bei der Grobmotorik [5,1 Prozent versus 8,2], der Merk- und Konzentrationsfähigkeit [10,5 Prozent versus 14,7] bzw. der visuellen Wahrnehmungsfähigkeit [2,9 Prozent versus 5,1] signifikante Zunahmen von Teilleistungsstörungen.
Grundsätzlich waren weniger Kinder im Regeleinschulungsalter [5,50 bis 6,50 Jahre] als andere Kinder, zwei- bis viermal mehr Knaben als Mädchen und mehr nicht-deutsche als deutsche Kinder von Entwicklungsverzögerungen betroffen.
Im adjustierten Regressionsmodell übten von den verhaltensbedingten Determinanten ein eher frühes Aufstehen vom Bett [paarige Leistungsstörungen: aOR=1,80], ein eher spätes Zu-Bett-Gehen [paarige Leistungsstörungen: aOR=1,57], eine eher kurze Schlafdauer [Motorik: aOR=2,27; Kognition: aOR=2,59], ein intensivierter Fernsehkonsum [Kognition: aOR=9,26; paarige Leistungsstörungen: aOR=6,92], geringe Sozialkontakte [Psyche: aOR=2,42] und keine Teilnahme an organisierten Veranstaltungen [Motorik: aOR=1,19; Kognition: aOR=1,83; Psyche: aOR=3,25; gemischte Teilleistungsstörungen: aOR=1,43; paarige Leistungsstörungen: aOR=2,00] ein signifikantes Risiko für Verzögerungen bei der Individualentwicklung aus.
Ebenso hatten die Lebensverhältnisse wie ein im Familienhaushalt lebendes Kind [Sprache: aOR=0,61; gemischte Teilleistungsstörungen: aOR=0,26], eine nicht-deutsche Nationalität [Kognition: aOR=1,99], eine nicht-deutsche Hauptsprache [Psyche: aOR=2,88], eine geringe Wohnfläche pro Person [gemischte Teilleistungsstörungen: aOR=1,35] einen signifikanten Zusammenhang zu Entwicklungsverzögerungen. Des Weiteren waren eine mittlere [versus hohe] Zufriedenheit der Eltern mit den unmittelbaren Lebensumständen wie mit der Wohnung [paarige Leistungsstörungen: aOR=1,41], mit dem Wohnort [Motorik: aOR=1,83], mit den Finanzen [Kognition: aOR=1,71; gemischte Teilleistungsstörungen: aOR=1,41] oder mit der Familie [Sprache: aOR=1,86; Kognition: aOR=2,04; gemischte Teilleistungsstörungen: aOR=1,53; paarige Leistungsstörungen: aOR=2,23] mit einem Risiko für das Auftreten von Entwicklungsverzögerungen bei den Einschulungskindern behaftet.
Insgesamt wiesen die Verteilungsmuster signifikanter Assoziationen auf einen wesentlichen Einfluss des Alters und des Geschlechts als biologische Determinanten hin, wobei die restlichen Faktoren einen modifizierenden Effekt ausübten.
SCHLUSSFOLGERUNGEN:
Durch die Zunahme einzelner Entwicklungsverzögerungen bei Vorschulkindern besteht ein Handlungsbedarf, gesundheitsfördernde Maßnahmen zeitnah und zielgruppenorientiert zu etablieren. In der Gesamtsicht waren die Verteilungsmuster der assoziierten Faktoren zu den unterschiedlichsten Entwicklungsverzögerungen als ein valider Hinweis für die Existenz eines sozialen Gradienten [je geringer der soziale Status, desto größer das Risiko für Verzögerungen der Individualentwicklung der Kinder] bei den Entwicklungschancen von Einschulungskindern zu interpretieren.