Für die Aufklärung und zum besseren Verständnis von humanen Erbkrankheiten, aber auch von grundlegenden Prozessen, werden häufig Tiermodelle in der Forschung eingesetzt. Bei Erkrankungen des ersten oder zweiten Motoneurons liegt in den meisten Fällen keine familiäre Ätiologie vor und die Identifizierung von ursächlichen Mutationen ist daher schwierig. Ziel dieser Arbeit ist die Aufklärung und Charakterisierung der ursächlichen Mutation für die Wobbler-Maus, ein etabliertes Tiermodell für Spinale Muskelatrophie und Amyotrophe Lateralsklerose.
Die Wobbler-Maus (Phänotyp WR, Genotyp wr) ist erstmals 1956 beschrieben worden und konnte als rezessive und autosomale Mutation charakterisiert werden. In unserer Arbeitsgruppe konnte 1992 der Ort der Mutation auf Chromosom 11 der Maus lokalisiert werden und in den folgenden Jahren ein Kandidatenintervall eingegrenzt werden. Charakteristisch für die Wobbler-Mutation ist eine Degeneration der Motoneuronen, die zwischen der dritten und vierten Lebenswoche zu einer Atrophie der Vorderbeine führt und progressiv fortschreitet. Begleitet wird die Muskelatrophie von einem Tremor des Kopf- und Schulterbereiches. Wobbler-Männchen weisen eine gestörte Spermatogenese auf. Die Spermien dieser Tiere zeigen Akrosom- und Kopfdefekte, die dem Krankheitsbild der Globozoospermie entsprechen. Wobbler-Männchen sind steril, eine Fertilisation von Oozyten ist nicht möglich.
Im Rahmen dieser Arbeit wurden bislang unbekannte Aspekte der Wobbler-Pathologie charakterisiert. Die Oogenese der Wobbler-Weibchen wurde untersucht, aber im Gegensatz zur Spermatogenese konnten keine Defekte nachgewiesen werden. Eine Metabolomanalyse des Testis zeigte quantitative Unterschiede bei verschiedenen Metaboliten aus dem Aminosäurestoffwechsel und in den Mägen von Wobbler-Tieren wurde eine starke Überfüllung mit Futter festgestellt. Des Weiteren wurde eine Akkumulation des Intermediärfilamentes Vimentin in den degenerierenden Motoneuronen nachgewiesen, ein weiterer Hinweis auf die Bedeutung von Intermediärfilamenten für die Wobbler-Pathologie. Nach der Identifizierung einer Punktmutation in Vps54, einem Gen im wobbler-kritischen Bereich, wurde die Einkreuzung eines Vps54-tragenden BAC-Transgens für ein Komplementations-Experiment in die Wobbler-Zucht vorgenommen. Der Wobbler-Phänotyp wurde von dem Vps54-Transgen vollständig kompensiert. Zur funktionellen Charakterisierung von Vps54 wurde eine Mauslinie etabliert, die eine "[beta]-geo-Gene-Trap-Insertion" zwischen dem fünften und sechsten Exon trägt, was zu einer Inaktivierung von Vps54 führt. Die heterozygoten Vps54 [beta]-geo Tiere wurden mit der Wobbler-Linie gekreuzt. Komplex-heterozygote Tiere (Vps54 [beta]-geo/wr) weisen den typischen Wobbler Phänotyp auf, da sich die Wobbler-Mutation und Vps54 [beta]-geo allelisch zu einander verhalten. Durch die Kompensation des Wobbler Phänotyps durch das Vps54-BAC-Transgen und die komplex-heterozygoten Tiere konnte bewiesen werden, dass es sich bei der Punktmutation in Vps54 um die gesuchte Wobbler-Mutation der Maus handelt. Homozygot ist das Vps54 [beta]-geo -Allel embryonal letal und führt zum Absterben der Embryonen an Tag 10-11,5 der Embryonalentwicklung.
Die Identifizierung und Charakterisierung von Vps54, welches für einen Vesikel-Transportfaktor kodiert, als Wobbler-Mutation zeigt, dass zelluläre Transportprozesse bei neurodegenerativen Erkrankungen, der Spermienbildung und der Embryonalentwicklung eine entschiedene Rolle spielen.