Handelte es sich bei der DDR um eine ‚sozialistische Variante’ der Wissensgesellschaft? Dies ist die übergeordnete Fragestellung der vorliegenden Studie. Ausgangspunkt der Arbeit ist die Frage, warum das systemische Denken in der DDR von einer geschmähten ‚Pseudowissenschaft‘ zu einem erfolgreichen wissenschaftlichen Denkstil wurde, der vor allem in den sechziger Jahren auch im Bereich der Politik an Bedeutung gewann. Die These ist, dass die Rezeption des systemischen Denkstil als Ausdruck einer Modernisierung der marxistisch-leninistischen Ideologie gelesen werden kann, im Zuge derer der im 20. Jahrhundert rasant zunehmenden Bedeutung von Wissenschaft und Technik Rechnung getragen werden soll. Unter dem Diktum der „Produktivkraft Wissenschaft“, die zur „Meisterung der wissenschaftlich-technischen Revolution“ eingesetzt werden sollte, avancierten Kybernetik und Systemtheorie zu modernen wissenschaftlichen Ansätzen par excellence. Mit Hilfe des systemischen Denkens sollten wissenschaftliche und ökonomische, technische und gesellschaftliche, pädagogische und psychologische Probleme gelöst werden, systemtheoretisch-kybernetische Ansätze spielten seit den frühen fünfziger Jahren in zahlreichen Wissenschaftsdisziplinen der DDR eine herausragende Rolle. Eine weitere Annahme, die der Arbeit zu Grunde liegt, ist, dass der umrissene Erfolg des systemischen Denkstils auch darauf gründet, dass er eine ‚Nahtstelle‘ zwischen Wissenschaft und Politik darstellte. Kybernetik und Systemtheorie stellten Wissen bereit, welches für die Politik von großem Interesse war und dazu beitrug, staatliches Handeln – etwa in Form der Etablierung des Neuen ökonomischen Systems der Planung und Leitung – zu begründen. Das systemische Denken führte somit zugleich zu Innovationen in der sozialistischen Dogmatik, die zugleich einen Grund für den politischen Bedeutungsverlust von Kybernetik und Systemtheorie seit dem Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker darstellten.
Die theoretisch-methodische Basis der Studie bilden Ludwik Flecks Überlegungen zur Entstehung und Entwicklung wissenschaftlicher Tatsachen sowie neuere Arbeiten zur Historisierung des Konzepts der Wissensgesellschaft. Wissenschaftliche Denkkollektive von Kybernetik und Systemtheorie und der von ihnen formulierte Denkstil werden in der vorliegenden Studie analysiert und die Frage gestellt, was sich anhand dessen über Verwissenschaftlichungsprozesse der Politik und die Politisierung der Wissenschaft ablesen lässt.
Zentrale Ergebnisse der Studie sind, dass die in der DDR geführte Debatte über die „Produktivkraft Wissenschaft“ und die „wissenschaftlich-technische Revolution“ analogisiert werden kann zu der Debatte über die Wissensgesellschaft; die ‚sozialistische Variante‘ des Konzepts der Wissensgesellschaft zog die politische Forderung nach einer Förderung der Wissenschaft – die im Sozialismus für unerlässlich gehalten wurde, um den Anforderungen der modernen Gesellschaft stand zu halten – nach sich. Systemtheorie und Kybernetik galten in diesem Zusammenhang als Paradedisziplinen eines neuen Wissenschaftsverständnisses. So konnte gezeigt werden, dass die Debatte um die Produktivkraft Wissenschaft den rasanten Aufstieg des zuvor als pseudowissenschaftlich diskreditierten systemischen Denkstils begünstigte.