Seit der Einführung von Kindersendungen im Fernsehen gibt es immer wieder Studien, die sich mit dem Lernen durch das Fernsehen beschäftigten. Diese zeigten, dass gerade jüngere Kinder unter drei Jahren Probleme damit haben, Inhalte vom Fernseher zu übernehmen, die sie ohne Weiteres in einer sozialen Interaktion mit einem Erwachsenen lernen könnten (z.B. Barr & Hayne, 1999; Robb, Richert, & Wartella, 2009; Troseth & DeLoache, 1998). Diese Probleme werden als Video-Defizit bezeichnet. Im Bereich von Sprache wurde z.B. bei Nomen und Verben gezeigt, dass Kinder ab 22 bzw. 42 Monaten in der Lage sind, diese von Videos zu lernen (Krcmar, Grela, & Lin, 2007; Roseberry, Hirsh-Pasek, Parish-Morris, & Golinkoff, 2009). Bei Kindern ab drei Jahren ist der Wortschatz nicht mehr das aussagekräftigste Kriterium für den Spracherwerb. Vielmehr steht in diesem Alter die Betrachtung der grammatischen Fähigkeiten im Mittelpunkt. Das Video-Defizit in Bezug auf die Grammatik bei älteren Kindern wurde jedoch bisher in empirischen Studien vernachlässigt.
Die vorliegende Studie untersucht die Fragestellung, ob bei Vierjährigen Kindern Effekte einer sozialen Interaktion bei der Wiederholung einer grammatischen Struktur zu finden sind und vergleicht daher eine Video-Präsentation mit einer Live-Präsentation der Passivstruktur.
Weiterhin wird in dieser Studie die Bedeutung sozialer Interaktionen weiter untersucht werden, indem die Anzahl der Sprecher betrachtet wird. Kinder lernen nicht nur von einer Person eine Sprache, häufig sind mehrere Interaktionspartner beteiligt, die unterschiedliche Bezeichnungen für bestimmte Sachverhalte und verschiedene Vorlieben für Wörter oder Satzstrukturen haben. Wenn zwei Sprecher genau dasselbe produzieren, könnte dies ein Ausdruck einer sozialen Norm oder einer Konvention sein, an die sich Kinder möglicherweise eher anpassen, als wenn nur eine einzelne Person etwas Bestimmtes sagt. Auf Grund einer solchen Konvention könnten die Kinder in der Lage sein, das Gesagte zu generalisieren. Auf der anderen Seite könnte allein die soziale Interaktion mit einem Gegenüber dazu ausreichen, dass Kinder Lerninhalte generalisieren können (Csibra & Gergely, 2009). Die zweite Fragestellung der vorliegenden Studie ist demnach, ob bei Kindern Effekte der Sprecheranzahl bei der Wiederholung einer grammatischen Struktur auffällig werden und vergleicht daher eine Ein-Sprecher-Bedingung mit einer Zwei-Sprecher-Bedingung bei der Präsentation der Passivstruktur auf Video bzw. in einer Live-Situation.
Um die beiden soeben genannten Hauptfragestellungen zu untersuchen, wurden dafür in der vorliegenden Studie vierjährigen Kindern Passivsätze in vier Bedingungen präsentiert: in einer Live-Bedingung mit einem Sprecher (L1), in einer Live-Bedingung mit zwei Sprechern (L2), in einer Video-Bedingung mit einem Sprecher (V1) und in einer Video-Bedingung mit zwei Sprechern (V2). Vor und nach diesem Training mit Passivsätzen sollten die Kinder jeweils acht Bilder beschreiben, um zu untersuchen, ob sich die Verwendung von Passivsätzen nach dem Training veränderte.
Die statistischen Analysen brachten für die vier Gruppenvergleiche folgendes Ergebnis: Die Kinder beschrieben in den beiden Livebedingungen (L1 und L2) mehr Bilder im Nachtest mit Passivkonstruktionen als in den Videobedingungen (V1 und V2). In den Videobedingungen war kein signifikanter Primingeffekt auffällig, was dafür spricht, dass die Kinder eine soziale Interaktion benötigen, um Passive zu wiederholen. Zwischen den Sprecherbedingungen (d.h. zwischen der Präsentation von einem und zwei Sprechern) waren keine signifikanten Unterschiede in der Passivverwendung im Nachtest zu finden. Dies legt nah, dass allein die soziale Interaktion bei den Kindern für die Wiederholung von Passiven ausschlaggebend und die Sprecheranzahl dahingegen für die Kinder unwichtig war.
Selbst noch vierjährige Kinder weisen demnach beim Lernen vom Fernseher ein Video-Defizit auf und benötigen eine soziale Interaktionen beim Grammatikerwerb. Das Video-Defizit ist folglich nicht mit drei Jahren überwunden, wie häufig angenommen wird. Mit Erhöhung des Schwierigkeitsgrades der Aufgabe gewinnt die soziale Interaktion beim Fernsehgucken wieder an Bedeutung.