Obgleich psychosoziale Aspekte bei Epilepsie in den letzten Jahren mehr und mehr Beachtung finden, liegen nur wenige wissenschaftliche Erkenntnisse zur Situation von Familien mit einem erwachsenen epilepsiekranken Angehörigen vor. Diese Leerstelle verwundert, gilt doch die Familie als primäre Sorge- und Hilfeinstanz bei chronischer Krankheit. Ziel der Arbeit war es, den familialen Umgang mit Epilepsie und Krankenrolle zu beleuchten und das Augenmerk insbesondere auf die Unterstützungs-funktionen – angesichts einer strukturellen Überforderung des Kranken im Umgang mit einer Krankenrolle –, die Familien neben ihren alltagsbezogenen Aufgaben wahrnehmen, zu richten.
Um dieses Thema zu explorieren, erfolgte zunächst eine Darstellung des Forschungsstands zu Epilepsie und Familie. Dabei wurde deutlich, dass vorliegende Studien primär entweder aus externer Perspektive formuliert sind, mithin dem familialen Krankheitserleben und Handeln kaum Aufmerksamkeit zollen, oder aber aus dem Blickwinkel eines Familienmitglieds auf das Gesamtsystem schließen, also keinen systemischen Einblick nehmen.
Zur theoretischen Annäherung wurde die Familie als Bewältigungsinstanz chronischer Krankheit vorgestellt, um vor dem Hintergrund der traditionellen, primär an akuter Krankheit ausgerichteten ‚sick role‘ die Ambiguität der Rollenperformanz bei chronischer Krankheit zu beleuchten und mit der nachfolgenden Empirie die familialen Herausforderungen in diesem Spannungsfeld zu erhellen.
Um Einblick in das das familiale Handeln bei chronischer Krankheit nehmen zu können, wurde als methodische Vorgehensweise ein qualitativ exploratives Forschungsdesign, orientiert an den Prämissen fallrekonstruktiver Familienforschung, gewählt. Insgesamt wurden acht Familien mit einem epilepsiekranken erwachsenen Angehörigen interviewt und vier Familien aus diesem Sample mittels iterativer Kontrastierung für die Darstellung ausgewählt. Die Analyse erfolgte mithilfe einer Kombination des Methodeninventars der Objektiven Hermeneutik und Grounded Theory.
Die Ergebnisse der Untersuchung zeigten die vielschichtigen Monitoring-, Unterstützungs-, und Kompensationsanstrengungen, die Familien hinsichtlich der Integration chronischer Krankheit unternehmen. Die Aneignung und Gestaltung einer Krankenrolle wurde dabei als zentraler Aspekt im Umgang mit chronischer Krankheit identifiziert. Um eine Einbettung angesichts besagter Ambiguität in das familiale Gefüge und den Alltag zu ermöglichen, setzten die Familien vielfältige, zeitlich und situativ moderierte Strategien – von ‚drängend konfrontierend‘ über ‚resignativ erduldend‘ bis ‚zögerlich austarierend‘ – ein, die alle auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet waren: Den Kranken in der Auseinandersetzung mit seiner ambiguitären Situation zu unterstützen und gleichzeitig die Stabilität der familialen Lebenswelt zu sichern. Der familiale Umgang mit chronischer Krankheit und Krankenrolle ließ sich dabei als von Kranken und Familien gleichermaßen zu vollziehender Lernprozess erkennen, der von unterschiedlicher Dauer, den Familien maximale Flexibilität abverlangt, die mitunter ihre Potenziale überbeanspruchen kann.
Die Relevanz der Arbeit zeigt sich zum einen in der Ergänzung der Wissensbestände zum familialen Umgang mit chronischer Krankheit angesichts einer ambivalenten Situation, die den Familien eine sensible, zweifache Mission auferlegt, um sowohl die Wohlfahrt des Kranken als auch des Gesamtsystems im Auge zu behalten. Zum anderen im Hinblick auf die gesundheitliche Versorgung, die vor dem Hintergrund der Erkenntnisse auf eine stärkere Partizipation und Unterstützung von Familien mit einem chronisch kranken Erwachsenen auszurichten ist.