Wenn Menschen eine Fremdsprache lernen, verbessert sich mit den allgemeinen Fortschritten in deren Beherrschung auch die Kontrolle der Timingmechanismen beim Sprechen in der Fremdsprache. Ziel dieser Arbeit ist es herauszufinden, ob diese Veränderungen perzeptiv relevant sind, und ob die verbesserte Kontrolle der Timingmechanismen bei fortgeschrittenen Sprachlernern deren wahrgenommenen Akzent reduziert.
Sprachspezifische Unterschiede in prosodischen Timingmustern sind gut dokumentiert. So weisen etwa die Dauern von vokalischen und konsonantischen Intervallen in den Sprachen, die traditionell als betonungszählend klassifiziert werden, eine höhere Variabilität auf als in Sprachen, die traditionell als silbenzählend klassifiziert werden. Silbenzählende Sprachen weisen außerdem eine höhere Sprechrate auf als betonungszählende Sprachen. Darüber hinaus zeigen Untersuchungen zu verschiedenen Sprachen, dass Nichtmuttersprachler eine geringere Sprechrate und niedrigere Variabilität im Timing gesprochener Äußerungen aufweisen als Muttersprachler. Diese Unterschiede beeinflussen die Verständlichkeit von gesprochenen Äußerungen von Nichtmuttersprachlern sowie deren wahrgenommenen fremdsprachlichen Akzent (FA). Allerdings sind die Geschwindigkeit – gemessen in sprachlichen Intervallen pro Zeiteinheit – und die Variabilität der Dauern dieser Intervalle in gesprochenen Äußerungen miteinander korreliert: Je höher die Sprechgeschwindigkeit ist, desto geringer ist die Variabilität der Intervalldauern. Dies wirkt sich auch in der Wahrnehmung aus. Daraus ergibt sich die Frage, in welchem Maß beide Faktoren zur Wahrnehmung eines FA bei Nichtmuttersprachlern beitragen. Um diese Frage zu beantworten, müssen beide Faktoren isoliert betrachtet werden.
Tempo und Timingvariabilität beim Sprechen einer Fremdsprache erhöhen sich im Verlauf von deren Erwerb, unabhängig davon, ob sich Mutter- und Fremdsprache (im Folgenden: L1 und L2) hinsichtlich ihrer Timingcharakteristika unterscheiden. Der Grad dieser Veränderung sollte folglich auch die Stärke des wahrgenommenen FA reflektieren. Wenn die Timingunterschiede perzeptiv relevant sind, sollten Äußerungen, deren Timingmuster der eines fortgeschrittenen L2-Lerners entsprechen, als schwächer akzentuiert wahrgenommen werden als solche, deren Timingmuster denen eines Anfängers entsprechen, auch wenn spektrale und intonatorische Unterschiede eliminiert werden. Dabei wird die Frage zu klären sein, in welchem Maß die beiden Faktoren Tempo und Timingvariabilität den wahrgenommenen FA beeinflussen. Grundannahme dieser Arbeit ist, dass der Einfluss der Variabilität geringer ist, wenn L1 und L2 ähnliche Timingcharakteristika haben.
In dieser Arbeit werden die Timingmuster von deutschen und französischen Lernern des Englischen hinsichtlich ihres Einflusses auf den wahrgenommenen FA untersucht, wobei zusätzlich jeweils Anfänger und fortgeschrittene Lerner getestet werden. Die Timingcharakteristika des Deutschen ähneln denen des Englischen, während sich das Französische in dieser Hinsicht deutlich vom Englischen unterscheidet. Daraus ergeben sich zwei Hypothesen: (1) Im Englischen fortgeschrittener deutscher Lerner (gegenüber Anfängern) äußert sich die Reduktion des wahrgenommenen FA stärker in einer Erhöhung der Sprechrate; (2) Bei französischen Englischlernern spielt die Timingvariabilität eine größere Rolle als die Veränderung der Sprechrate im Verlauf des Spracherwerbs.
Diese Hypothesen wurden anhand von vier Forschungsfragen überprüft:
1. Nehmen Muttersprachler der Zielsprache (Englisch) Unterschiede im Timing gesprochener Äußerungen zwischen Anfängern und fortgeschrittenen Englischlernern wahr?
2. Korreliert die Reduktion des wahrgenommenen FA mit den Veränderungen der Timingmuster im Verlauf des L2-Erwerbs?
3. Welche Anteile haben die einzelnen Faktoren Sprechtempo und Timingvariabilität am wahrgenommenen FA?
4. Zeigen sich hinsichtlich der separaten Anteile von Sprechtempo und Timingvariabilität am wahrgenommenen FA Unterschiede zwischen Lernern mit typologisch unterschiedlichen Muttersprachen?
In dieser Arbeit wird über die Ergebnisse von drei Wahrnehmungsexperimenten berichtet, die zur Beantwortung der Forschungsfragen durchgeführt wurden. Die Arbeit ist wie folgt strukturiert: Im ersten Kapitel werden der theoretische Hintergrund vorgestellt und die Arbeitshypothesen erläutert. Das Kapitel beginnt mit einer Definition des Begriffs „FA“ und einer Diskussion der wichtigsten Faktoren, die zur Wahrnehmung des FA beitragen. Dabei wird auch ein kurzer Überblick über Modelle des Zweitspracherwerbs gegeben. Weiterhin werden segmentale und prosodische Unterschiede zwischen L1 und L2 und deren Einfluss auf den wahrgenommenen FA diskutiert, und es wird erörtert, wie diese Unterschiede in verschiedenen Modellen des Zweitspracherwerbs erklärt werden. Zudem wird es auch auf die Frage eingegangen, ob segmentale oder prosodische Faktoren einen größeren Einfluss auf den wahrgenommenen FA haben. Schließlich folgt eine Diskussion des Prosodiebegriffs, unter Einbeziehung der Subsysteme Betonung, Intonation und Timing. Im Besonderen wird auf Timingmuster eingegangen, wobei der Fokus darauf liegt, wie Timing in gesprochener Sprache gemessen werden kann, wie Sprechrate und Timingvariabilität zusammenhängen, und wie Timingunterschiede zwischen Muttersprachlern und Sprachlernern die Wahrnehmung von FA beeinflussen. Anschließend an diese Diskussion wird die oben eingeführten Arbeitshypothesen formuliert und motiviert.
In den Kapiteln 3, 4 und 5 werden die einzelnen Wahrnehmungsexperimente beschrieben, im letzten Kapitel zusammengefasst und diskutiert. Die Ergebnisse der Experimente stützen die oben eingeführte Hypothese und können wie folgt zusammengefasst werden:
1. Muttersprachler nehmen die Unterschiede zwischen den Timingmustern in den L2-Produktionen fortgeschrittener und weniger fortgeschrittener Sprachlerner wahr. Sie tendieren jedoch dazu, Unterschiede in der Variabilität in Klassifikationsaufgaben und in nichtsprachlichen Stimuli zu ignorieren. Je natürlicher und sprachähnlicher die Stimuli sind, desto stärker werden Unterschiede in der Timingvariabilität wahrgenommen.
2. Die Stärke des wahrgenommenen FA korreliert, wie vorhergesagt, mit Veränderungen in Sprechtempo und Timingvariabilität, die mit steigender Kompetenz in der L2 einhergehen. Fortgeschrittenere Sprecher sprechen schneller und mit höherer Variabilität von sowohl Vokal- als auch Silbendauern. Äußerungen mit höherem Sprechtempo und höherer Timingvariabilität werden von Muttersprachlern des Englischen als weniger stark akzentuiert wahrgenommen.
3. Der kombinierte Beitrag von Sprechtempo und Timingvariabilität zum wahrgenommenen FA ist größer als die Summe der Effekte beider Faktoren in Isolation. Experimente, in denen jeweils einer der beiden Faktoren kontrolliert wird, zeigen, dass beide zum wahrgenommenen FA beitragen.
4. Die relative Gewichtung beider Faktoren hängt davon ab, ob L1 und L2 hinsichtlich ihrer Timingcharakteristika ähnlich oder verschieden sind. Wenn sich L1 und L2, wie im Fall von Französich und Englisch, stark unterscheiden, ist der Beitrag der Variabilität größer; wenn sich L1 und L2 hinsichtlich ihrer Timingcharakteristika ähneln – wie im Fall von Deutsch und Englisch – spielt das Sprechtempo für die Wahrnehmung des FA die wichtigere Rolle.