EINLEITUNG: Schluckstörungen (Dysphagien) sind mit einer Inzidenz von über
70% die häufigsten Komplikationen nach ventralen Operationen an der Halswirbelsäule
(HWS). Es gibt erste Hinweise darauf, dass Schluckstörungen auch nach dorsalen
Eingriffen auftreten können. In den meisten Fällen sind die Dysphagien beider
Gruppen passager und leichtgradig, es gibt jedoch auch extrem lange und komplizierte
Verläufe, welche die Patienten deutlich beeinträchtigen und zu Sekundärkomplikationen
wie beispielsweise Mangelernährung oder Lungenentzündungen führen. Bislang
wurden die postoperativen schluckphysiologischen Veränderungen kaum erforscht,
bei objektiven Messungen lag der Fokus meist auf Penetration/Aspiration
oder dem Vorhandensein von Residuen. Ziel dieser Studie war die Untersuchung der
Schluckphysiologie mit Bezug auf die beiden operativen Zugangswege von ventral
und dorsal im direkten Prä/Post-Vergleich.<br /><br />
METHODE: Eine Videofluoroskopie (VFS) wurde bei 28 Patienten (ventrale
Gruppe: 19 Patienten, 9w/10m, M=56 ±14, R=33-80 Jahre; dorsale Gruppe: 9
Patienten, 5w/4m, M=58 ±17, R=24-74 Jahre) am Tag vor und nach der HWS-Operation
(M=4, R=1-15 Tage) durchgeführt. Die standardisierte Durchführung
der VFS umfasste einen Teelöffel (5ml) und einen Schluck Flüssigkeit, einen Teelöffel
Brei sowie einen Biss Bariumbrot. Die Videos wurden retrospekiv verblindet nach
dem Protokoll des Modified Barium Swallow Impairment Profile (MBSImP™©) und
der Penetrations-/Aspirationsskala analysiert, um Veränderungen der einzelnen
schluckphysiologischen Parameter statistisch berechnen zu können. Zusätzlich wurden
die Risikofaktoren Geschlecht, Alter, Revisions-OP, Anzahl der operierten Segmente
und Beteiligung der oberen HWS in der Analyse berücksichtigt. Für einen
umfassenden Überblick wurde zusätzlich der pharyngeale Summenscore gebildet.
Die statistische Auswertung erfolgte mit dem Programm IBM SPSS Statistics 22.0.
Als Signifikantsniveau für den pharyngealen Summenscore wurde p<.05 festgesetzt,
für die Analyse der Parameter nach Bonferroni-Korrektur p<.01 für die oralen Parameter
und p<.006 für die pharyngealen Parameter. Die Prä/Post-Vergleiche wurden
mit dem Wilcoxon-Vorzeichen-Rang-Test für verbundene Stichproben, die Analyse
der Risikofaktoren mit dem U-Test nach Mann-Whitney-Wilcoxon für unabhängige
Stichproben auf ordinalem Datenniveau berechnet.<br /><br />
ERGEBNISSE: In der ventralen Gruppe zeigt sich der pharyngeale Summenscore
nach der Operation signifikant höher (p=.000). Signifikante Veränderungen ergaben
sich für die pharyngealen Parameter Hyoidverlagerung, pharyngeale Austreibungswelle,
Öffnung des pharyngo-ösophagealen Segments, sowie pharyngeale Residuen.
In der dorsalen Gruppe zeigt sich der pharyngeale Summenscore nach der Operation
ebenfalls signifikant höher (p=.015). Es gibt einen statistischen Trend zu Veränderungen
des oralen Parameters Bolustransport und der pharyngealen Parameter Larynxelevation,
Hyoidverlagerung, pharyngeale Austreibungswelle, Öffnung des pharyngo-
ösophagealen Segments, sowie pharyngeale Residuen. In der ventralen Gruppe
zeigen Männer postoperativ einen statistisch signifikant höheren pharyngealen Summenscore.
Ältere Patienten der ventralen Gruppe haben postoperativ in der Tendenz
Beeinträchtigungen mit der Epiglottis-Abkippung und der Zungengrundretraktion.
Patienten, die eine Revisions-Operation erhalten zeigen bereits vor der Operation
tendenziell Einschränkungen im Bolustransport und in der Initiierung des pharyngealen
Schlucks und haben mehr pharyngeale Residuen. Nach der Operation zeigen
sie signifikant häufiger eine beeinträchtigte Zungengrundretraktion und in der
Tendenz vermehrt pharyngeale Residuen.<br /><br />
SCHLUSSFOLGERUNG: Die Ergebnisse liefern wertvolle Informationen über die
Schluckphysiologie vor und nach Operationen an der Halswirbelsäule. Nach ventraler
Operation sind mehr Parameter betroffen, dennoch treten schluckphysiolgische
Veränderungen auch nach dorsalen Eingriffen auf. Die Ergebnisse können dazu beitragen,
Dysphagie-Risikopatienten frühzeitig zu identifizieren und dadurch die Komplikationsrate
zu senken. Weiterhin wird deutlich, dass eine ausschließliche Betrachtung
von Penetration/Aspiration nicht ausreicht, um die Komplexität der Schluckphysiologie
zu erfassen. Die Kenntnis etwaiger physiologischer Veränderungen ist
jedoch erforderlich, um für die Patienten spezifische therapeutische Maßnahmen zur
Verfügung stellen zu können. Nur durch individuell abgestimmte Therapiepläne ist
es möglich, eine zügige Verringerung der Beschwerden und dadurch eine Verbesserung
der Lebensqualität zu erreichen.