In der Institution Grundschule werden Kinder mit sehr unterschiedlichen Interessen, Begabungen und Entwicklungserschwernissen gemeinsam unterrichtet. Mit einer zunehmend inklusiven Orientierung des Schulsystems im Hinblick auf die Erfüllung der Vorgaben der UN-Behindertenrechts¬konvention (UN-BRK 2009) verbindet sich die Anforderung, die individuellen Lernausgangslagen und Lebenssituationen systematisch zu berücksichtigen und institutionell Antworten auf heterogene Entwicklungsstände zu finden. Das Modell der Zusammenarbeit von Grundschulen mit einem Kompetenzzentrum für sonderpädagogische Förderung stellt eine solche institutionelle Antwort dar, die in NRW im Zeitraum von 2008 bis 2015 umgesetzt wurde. Im Rahmen des Modells Gemeinsames Lernen wird es in veränderter Form weitergeführt.
Im Rahmen dieser Dissertation wird der Forschungsfrage nachgegangen, wie Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf in der Grundschule gefördert werden und welchen Beitrag auf präventiver Ebene die Kompetenzzentren für sonderpädagogische Förderung und die Grundschulen leisten, um die Kinder so zu unterstützen, dass sie altersspezifische Entwicklungsaufgaben bewältigen können. In einem übergeordneten Sinne zielt das Forschungsinteresse darauf, die Förderstrukturen und -praktiken im Primarbereich im Rahmen der Umsetzung von schulischer Inklusion aus der Sicht von Grundschullehrkräften, sonderpädagogischen Lehrkräften, Eltern und Kindern zu rekonstruieren.
Angesichts der hohen Relevanz der in den Grundschulen bestehenden Notwendigkeit, mit der Heterogenität professionell umzugehen, wird daher ein mehrperspektivischer und prozessorientierter Zugang zur Förderung von Kindern mit Unterstützungsbedarf verwendet. Dies stellt ein Desiderat für ein bisher vernachlässigtes Forschungsfeld der Erziehungswissenschaft dar, weil bisherige Forschungen sich weitgehend auf die Perspektive von sonderpädagogischen Lehrkräften beschränken, weder systematisch die Perspektive von Kindern und Eltern berücksichtigen noch eine prozessorientierte Perspektive auf die individuelle Förderung eingenommen haben (Wild/Lüt¬je-Klose 2017).
Das Forschungsdesign ist explorativ angelegt. Es erfolgt eine Totalerhebung aller Kinder eines KsF mit 14 kooperierenden Grundschulen, für die im Untersuchungszeitraum eine besondere Unterstützung gewährt wurde. Es findet in Teilstudie I eine Dokumentenanalyse aller Förderpläne (N=107) statt, die für das Schuljahr 2010/11 für die Kinder mit Unterstützungsbedarf im Bereich Lernen, emotionale und soziale Entwicklung sowie Sprache des ausgewählten Kompetenzzentrums für sonderpädagogische Förderung geschrieben wurden. Die Ergebnisse werden genutzt, um für die Teilstudie II sechs kontrastierende Fälle hinsichtlich der Entwicklungsverläufe und der Förderbereiche auszuwählen, um gehaltvolle Ergebnisse v.a. mit Blick auf Einstellungen und Kompetenzen der beteiligten Akteurinnen und Akteure, Kooperationen und Beziehungsgestaltungen, Rollenausprägungen sowie Stärken und Schwächen des Organisationsmodells KsF zu ermöglichen. Dazu wurden im Rahmen eines mehrperspektivischen Zugangs mit den verschiedenen an Förderung beteiligten Akteuren (Klassenlehrkraft, sonderpädagogische Lehrkraft, Eltern und Kind) leitfadengestützte Interviews (N=23) durchgeführt und qualitativ inhaltsanalytisch mit Bezug auf die Theorie integrativer Prozesse (Reiser et al. 1987) ausgewertet. Außerdem wurde der Entwicklungsverlauf der Kinder der Untersuchungsgruppe im Zeitraum von drei Jahren, beginnend mit dem Schuljahr 2010/11, erfasst und dargestellt.
Die Interpretation erfolgt systematisch entlang der Ebenen des Reiser-Modells. Unter Rückbezug auf den aktuellen Forschungsstand werden die Ergebnisse diskutiert, eingeordnet und zentrale Aspekte kontrastierend herausgearbeitet. Im Fazit und Ausblick werden die zentralen Erträge dieser Studie bilanzierend herausgestellt und mögliche Konsequenzen für Schule und Lehrerbildung abgeleitet.