Die vorliegende Arbeit untersucht das Phänomen, dass Opfer von interpersonellen Gewalterfahrungen in der Kindheit zu einem späteren Zeitpunkt ein erhöhtes Risiko aufweisen, erneut Opfer von Gewalterfahrungen zu werden. Dieses sogenannte Reviktimisierungsphänomen hat zwar ein hohes soziales Ausmaß und gravierende Folgen für die Betroffenen, ist aber bislang ein einem sehr einseitigen Blickwinkel untersucht worden und wurde in seinen Wirkmechanismen noch kaum verstanden. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den Forschungslücken, die insbesondere folgenden Fragen betreffen: Haben die unterschiedlichen Arten von Gewalterfahrungen in der Kindheit und im Erwachsenenalter (sexuelle, physische und emotionale) spezifische Zusammenhänge untereinander? Zeigen sich diese Zusammenhänge im Sinne eines Reviktimisierungsphänomens auch bei Männern oder stehen Gewalterfahrungen bei Männern im Sinne eines Opfer-Täter Zyklus in Zusammenhang zueinander? Welche Variablen vermitteln die Zusammenhänge von Gewalterfahrrungen in der Kindheit und erneuten Gewalterfahrungen im Erwachsenenalter?
In einer Online-Umfrage wurden bei 135 Frauen sexuelle, körperliche und emotionale Gewalterfahrungen getrennt nach ihrem Auftreten in der Kindheit und im Erwachsenenalter, erfasst. Darüber hinaus wurde ein Set von Variablen abgefragt: Emotionsregulationsdefizite, bindungsbezogene dysfunktionale Einstellungen, Selbstwirksamkeit, Selbstbehauptung, sexuelle Selbstbehauptung, Präferenz für dominante Partner und missbrauchsbezogene Schuld- und Schamgefühle. Dieseleben Konstrukte ergänzt durch die Ausübung unterschiedlicher Arten von Gewalt im Erwachsenenalter wurden in einer Stichprobe von 47 Männern untersucht. Die Stichprobe wurde teilweise online und teilweise in einer psychiatrischen Klinik rekrutiert.
Mittels Regressionsanalysen wurden die spezifischen Zusammenhänge von sexueller, physischer und emotionaler Gewalt in der Kindheit und im Erwachsenenalter (Opfer- und Täterperspektive) untersucht. Bei den gefundenen Zusammenhängen wurden in einem nächsten Schritt Mediationsanalysen durchgeführt und die acht potenziell vermittelnden Variablen untersucht.
Die Ergebnisse liefern Hinweise auf eine Bedeutsamkeit der unterschiedlichen Arten von Gewalt. Insbesondere zeigt sich auch eine wichtige Rolle der, bislang in Untersuchungen ausgesparten, emotionalen Gewalt. Ebenso zeigten sie, dass bei Männern sowohl Reviktimisierungsprozesse als auch den Opfer Täter Zyklen nach Gewalterfahrungen in der Kindheit einsetzen. Bemerkenswert ist bei den Ergebnissen v.a. die Rolle von missbrauchsbezogenen Schuld- und Schamgefühlen. Diese erwiesen sich über alle untersuchten Variablen hinaus als konsistenter Mediator bei den Reviktimisierungsprozessen der Frauen und teilweise auch bei denen der Männer.
Diese Ergebnisse dieser Arbeit werden insbesondere mit ihrer Auswirkung für die Entwicklung speziell zugeschnittener Behandlungs- und Präventionsmöglichkeiten und für die psychotherapeutische Praxis diskutiert.