Die vorliegende Studie HLS-MIG liefert erstmals für Deutschland detaillierte Daten zur Gesundheits-kompetenz von Menschen mit Migrationshintergrund. Sie konzentriert sich auf die beiden großen Ein-wanderungsgruppen: Menschen mit ex-sowjetischem und türkischem Migrationshintergrund. Die Studie schließt inhaltlich und methodisch an die zweite Studie zur Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland an (HLS-GER 2; Schaeffer et al. 2021) und ist um relevante migrationsspezifische Aspekte ergänzt worden. Neben der allgemeinen Gesundheitskompetenz wurden auch die digitale und die na-vigationale Gesundheitskompetenz untersucht.
Die wichtigsten Studienergebnisse:
1. Gut die Hälfte der Personen mit ex-sowjetischem und türkischem Migrationshintergrund verfügt über eine geringe allgemeine Gesundheitskompetenz. Ihre Gesundheitskompetenz unterscheidet sich dem-nach nicht wesentlich von der Allgemeinbevölkerung in Deutschland, sondern fällt sogar tendenziell besser aus.
2. Gesundheitskompetenz ist – ähnlich wie in der Allgemeinbevölkerung – auch bei Personen mit ex-sowjetischem und türkischem Migrationshintergrund sozial ungleich verteilt: Besonders Menschen mit niedrigem Bildungsniveau oder Sozialstatus, im höheren Lebensalter oder mit chronischer Erkrankung weisen eine deutlich geringere Gesundheitskompetenz auf, ebenso Menschen mit eigener Migrations-erfahrung und/oder mit geringen Deutschkenntnissen.
3. Von den vier Schritten der Informationsverarbeitung (Finden, Verstehen, Beurteilen, Anwenden) fällt die Beurteilung von Informationen am schwersten, was den Ergebnissen zur Allgemeinbevölkerung ent-spricht. Etwa zwei Drittel weisen hier eine geringe Gesundheitskompetenz auf. Aber auch die Anwen-dung von Informationen stellt viele vor Schwierigkeiten: Etwa die Hälfte der Befragten verfügt hier über eine geringe Gesundheitskompetenz. Schwierigkeiten bereiten u.a. die Einschätzung der Vertrauens-würdigkeit von Informationen oder der möglichen kommerziellen Interessen der Informationsanbieter.
4. Von den drei untersuchten Bereichen wird der Umgang mit Informationen zur Prävention und Ge-sundheitsförderung als besonders schwierig eingeschätzt. So wirft z. B. der Umgang mit Informationen zum Impfen oder zu Früherkennungsuntersuchungen sowie zur Gestaltung gesundheitsförderlicher Le-bensbedingungen subjektiv große Schwierigkeiten auf. Aber auch bei Informationen zur Krankheitsbe-wältigung und Versorgung sehen sich Personen beider Migrationsgruppen vor Probleme gestellt, bei-spielsweise wenn es darum geht, die Vor- und Nachteile von Behandlungsalternativen einzuschätzen, Beipackzettel zu verstehen oder zu beurteilen, wann eine ärztliche Zweitmeinung sinnvoll ist.
5. Der HLS-MIG zeigt einmal mehr, dass geringe Gesundheitskompetenz folgenreich ist. Ebenso wie die Allgemeinbevölkerung verhalten sich Menschen beider Migrationsgruppen mit geringer Gesund-heitskompetenz ungesünder (sie sind seltener körperlich aktiv und konsumieren seltener täglich Obst und Gemüse) und schätzen ihre Gesundheit schlechter ein. Zudem nutzen sie das Gesundheitssystem intensiver: Sie haben mehr Arztkontakte und Krankenhausaufenthalte und suchen Notfalldienste häufi-ger auf.
6. Beide Migrationsgruppen haben ein großes Interesse an Gesundheitsinformationen. Zu den wichtigs-ten Anlaufstellen und Quellen für Gesundheitsinformationen gehören Hausärzt:innen und das Internet, außerdem Fachärzt:innen, die Familie und Freund:innen. Doch nicht immer werden die dort erhaltenen Informationen auch gut verstanden: Verständnisprobleme werfen die Informationen der Gesundheits-professionen – besonders der Ärzt:innen – doch vor allem auch der Krankenkassen auf.
Beide Gruppen nutzen intensiv fremdsprachliche Informationen und beziehen sie zu einem erheblichen Anteil aus russischsprachigen Ländern bzw. der Türkei. Großer Bedarf besteht an Übersetzungsdiens-ten – auch bei Befragten mit guten Deutschkenntnissen. Allerdings sind diese aus Sicht der Befragten nicht leicht zu bekommen.