TY - THES AB - Wird dem Frontallappen zu Recht eine herausragende Rolle bei Exekutivfunktionen zugeschrieben oder ergibt sich aus einer (prä-)frontalen Lokalisation eine Reduktion, die dem komplexen Geflecht, das für die Tüchtigkeit Exekutiver Funktionen verantwortlich ist, nicht gerecht wird? Zur Klärung dieser Frage wurden drei Verfahren zur Erfassung der Planungs- und Organisationsfähigkeit entwickelt. Eines der Verfahren ("Handlungsorganisation und Tagesplanung") verwendet Photokarten, auf denen unterschiedliche Alltagshandlungen abgebildet und die in Einzelschritte unterteilt sind. In einem ersten Teil müssen die Einzelbilder einer Handlung (z.B. Rasen mähen) in eine sinnvolle Reihenfolge gebracht werden. In einem zweiten Teil ("vorstrukturierter Tagesplan") müssen die gleichen Bilderserien anhand einer Textvorlage, die einen Tagesablauf beschreibt, sortiert werden, und schließlich wird in einem dritten Teil ("teilstrukturierter Tagesplan") lediglich eine umgrenzte Anzahl an Vorgaben zur Organisation eines Tagesablaufes gegeben, während die restlichen Planungen nach eigenen Überlegungen erfolgen sollen. Ein weiteres Verfahren ("Beobachtungsverfahren zur Organisation praktischer, alltagsnaher Tätigkeiten") verlangt die Sortierung ungeordneter Kontoauszüge, die Summierung von Überweisungsposten und einen Abgleich mit dem Kontostand. Des Weiteren müssen un-/frankierte Briefe getrennt und ein Einkaufszettel unter bestimmten Vorgaben zusammengestellt werden. Schließlich stellt das dritte Verfahren ("Organisation und Planung eines Ausflugs") die Anforderung, aus einer Fülle an Informationsmaterialien eine Tagestour nach Berlin zu organisieren. In einem ersten Schritt wurden zur Normierung die Daten von 124 Gesunden unterschiedlicher Bildungsklassen im Alter von 19 bis 60 Jahren erhoben. Anschließend wurden die Ergebnisse von 118 neurologischen Patienten zur Überprüfung der Differenzierungsfähigkeit der Verfahren mit den Leistungen der Gesunden verglichen. Weiterhin wurden die Patienten in zwei unterschiedliche Gruppen ("frontal" und "nicht frontal") eingeteilt, die sich aus der Lokalisation der vorliegenden Hirnschädigung ergeben, und deren Daten zur Klärung der Fragestellung, inwieweit frontale Läsionen einen besonderen Einfluss auf die Tüchtigkeit Exekutiver Funktionen (resp. auf die Planungs- und Organisationsfähigkeit) ausüben, einander gegenübergestellt. Die Analysen geben einen Hinweis darauf, dass frontalhirngeschädigte Patienten größere Schwierigkeiten bei der Bewältigung planerischer Aufgaben zeigen, was sich in einer geringeren Bearbeitungsqualität und/oder einer längeren Bearbeitungsdauer niederschlägt. Vor diesem Hintergrund kann dem Frontalhirn tatsächlich eine besondere Rolle bei der Ausführung Exekutiver Funktionen zugeschrieben werden. Weiterhin lassen die Ergebnisse jedoch auch erkennen, dass auch die nicht-frontal betroffenen Patienten im Vergleich zu den gesunden Personen ein deutlich geringeres Leistungsniveau erreichen, so dass davon ausgegangen werden muss, dass sich auch nicht-frontale Läsionen erheblich negativ auf die Tüchtigkeit Exekutiver Funktionen auswirken, wenngleich dieser Einfluss nicht so gravierend zu sein scheint wie nach frontalen Hirnschädigungen. Eine Erklärung für diese Befunde wird in einer netzwerk-theoretischen Sichtweise gesehen: Sie geht nicht von Exekutiven Funktionen als einer eigenen Form kognitiver Funktionen neben den Leistungsaspekten Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis etc. aus, sondern sie versteht die komplexen Exekutivfunktionen als auf den genannten Leistungsaspekten basierend und - durch die Integration und Koordination der unterschiedlichen basalen Informationen - aufgrund der besonderen, intensiven Vernetzung und Kumulation der Grundfunktionen über eine reine Summation dieser Aspekte hinausgehend. Da die Integration der Basisfunktionen im Frontallappen erfolgt, erhält das Stirnhirn eine besondere Rolle. Eine umschriebene Läsion außerhalb des Frontallappens betrifft in erster Linie eine Basisfunktion, deren Informationen dann nur entsprechend unvollkommen das Integrationszentrum erreichen und dort auch nur unzureichend verarbeitet werden können; die koordinierenden Strukturen können jedoch auf andere intakte Funktionszentren zurückgreifen und eine - wenn auch gegebenenfalls eingeschränkte, wie die Vergleiche mit den Ergebnissen gesunder Personen nahe legen - "Orchestrierung" der noch verfügbaren zahlreichen Einzelinformationen leisten. Liegt andererseits eine Schädigung unmittelbar in den Regionen der zentralen Vernetzung vor, können die umfangreichen ankommenden Einzelinformationen aus den verbundenen Basisfunktionszentren nicht mehr koordiniert und aufeinander abgestimmt werden, woraus sich stärkere Beeinträchtigungen explizit bei solchen Aufgaben ergeben, die ein In-Einklang-Bringen vieler einzelner Situationsaspekte verlangen. DA - 2006 KW - Executive functions KW - Planung KW - Instrument KW - Neuropsychology KW - Diagnosis KW - Neuropsychologie KW - Diagnostik KW - Exekutivfunktionen KW - Exekutive Funktionen LA - ger PY - 2006 TI - Haben wir wirklich ein "Brett VOR dem Kopf"? : die Rolle des Frontalhirns bei Planungs- und Organisationsaufgaben, neue Verfahren zur Erfassung von Teilstörungen exekutiver Funktionen UR - https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:361-8611 Y2 - 2024-12-26T06:35:23 ER -