Die Geschichte der Philosophie und Theologie ist reich an Theorien darüber, was das Gewissen ist. Dies verwundert nicht, ist doch das Gewissen ein moralisches Phänomen, mit dem wir alle vertraut sind und das wir als Anlage, so jedenfalls Kant, alle „haben“ (EXII: 399,7)1, sofern wir überhaupt Menschen sind. Dies und die Tatsache, dass Kant in seinen ethischen Schriften immer wieder die Nähe seiner Überlegungen zur .gemeinen sittlichen Vemunfterkenntnis1 betont, macht es um so überraschender, in Kants Grundlegung und in der zweiten Kritik so gut wie nichts über das Gewissen zu lesen. Erst in der Religionsschrift und dann in der Tugendlehre entwirft Kant so etwas wie eine Theorie oder Philosophie dieses „wundersamen Vermögens“ (KpV: 98). Obwohl diese Philosophie des Gewissens selbstverständlich Elemente enthält, wie sie auch in der Tradition zu finden sind, bildet sie doch eine ganz eigene, komplexe und weitreichende Theorie, die eine genauere philosophische Untersuchung lohnend macht.