Die Vorhersage der Lebensdauer von metallischen Werkstoffen im Bereich sehr hoher Lastspielzahlen (engl.: Very High Cycle Fatigue, kurz: VHCF) stellt eine große Herausforderung für die Werkstoffwissenschaft dar. Die neuesten Untersuchungen zeigen, dass für viele metallische Werkstoffe keine Dauerfestigkeitsgrenze bei 107 Lastspielen vorliegt. Darüber hinaus deutet eine große Streuung der Ergebnisse darauf hin, dass nicht nur die Größe der Beanspruchung sondern auch mikrostrukturelle Heterogenitäten wie z. B. Korngrenzentyp, -größenverteilung, Einschlussgröße usw. eine große Bedeutung im VHCF-Bereich haben. Da die Wirkung der mikrostrukturellen Faktoren zufällig ist und mit Abnahme der Beanspruchung bzw. beim Übergang vom HCF- zum VHCF-Bereich ausgeprägter wird, ist die Untersuchung der mikrostrukturellen Schädigungsmechanismen zur Entwicklung eines sicheren Lebensdauervorsagenkonzepts im VHCF-Bereich notwendig.
In der vorliegenden Arbeit wird der Zusammenhang zwischen der Werkstoffqualität in Bezug auf die Größenverteilung und räumliche Verteilung von Defekten und der Größe und Position der bruchinitiierenden Defekte bzw. der entsprechenden Lebensdauer der Ermüdungsproben im VHCF-Bereich untersucht. Zu diesem Zweck wurden Ermüdungsversuche an Proben aus drei Referenzwerkstoffen bzw. -zuständen zweier nach H. Mughrabi (2006) unterschiedlicher Werkstoffgruppen mit Aufklärung der typischen Rissinitiierungsorte und Schädigungsmechanismen durchgeführt. Untersucht wurden die Nickelbasis-Superlegierung Nimonic 80A (Werkstoffgruppe I), der metastabile austenitische Edelstahl 1.4301 mit einem hohen verformungsinduzierten Martensitvolumenanteil sowie eine Schweißverbindung von Aluminiumblechen aus EN AW-6082 T651 (Werkstoffgruppe II). Der Einfluss der typischen für die untersuchten Werkstoffe bruchrelevanten Defekte wurde mit entsprechenden Parametern modelliert. Die Spannungskonzentration an bruchrelevanten Zwillings- und regulären Korngrenzen in Nimonic 80A wird mit einem Missorientierungsfaktor von Blochwitz et al. (1997) bzw. einem entwickelten Rissinitiierungsparameter quantifiziert. Der Einfluss der Größe und Position der fremdartigen Defekte in der Werkstoffgruppe II wurde mit einem Spannungsintensitätsfaktor unter Berücksichtigung der Spannungsverteilung in den Ermüdungsproben abgeschätzt. Die Untersuchung der Verteilung bruchrelevanter Parameter in einzelnen Proben hat gezeigt, dass die Rissinitiierung bevorzugt an Defekten mit Maximalwerten der definierten Parameter stattfindet. Basierend auf den Ergebnissen aus den Ermüdungsversuchen wurde die beobachtete Abhängigkeit der bruchrelevanten Parameter und der entsprechenden Lastspielzahl bis zum Versagen bzw. der Rissinitiierung modelliert.
Die Analyse und statistische Modellierung der bestimmten schädigungsrelevanten Defekte wurde auf Basis der metallographischen Untersuchungen aller Werkstoffe im Lieferungszustand durchgeführt. Mit Hilfe der Extremwertstatistik wurden die Größenverteilung und ggf. die räumliche Verteilung der größeren Defekte in metallographischen Proben modelliert, um sie als Basis zur Abschätzung der Größe der bruchrelevanten Parameter in Ermüdungsproben zu nutzen. Die Lebensdauer unterschiedlicher Ermüdungsproben wurde auf Basis der modellierten bruchrelevanten Parameter vorhergesagt und sowohl mit eigenen Ergebnissen als auch mit Ergebnissen aus der Literatur verglichen. Die Übereinstimmung der experimentellen und rechnerischen Ergebnisse, sowie die Übertragbarkeit der entwickelten Methode auf andere Werkstoffe werden am Ende dieser Arbeit diskutiert.