Die Betrachtung eines Bildes kann Vorstellungen entstehen lassen, die weit über das im Bild Sichtbare hinausgehen. Bilder mit dieser Eigenschaft werden in der Kunstgeschichte oft als narrativ bezeichnet. Allerdings ist der Zusammenhang von Bild und Narration in der Kunstgeschichte bislang kaum theoretisiert worden. In der zeitgenössischen Kunst zeigt sich dieses Phänomen exemplarisch am Werk Neo Rauchs: Der Künstler gilt als ein Maler der narrativen Mehrdeutigkeiten, der Rätselbilder und der simultanen Erzählstränge. Zugleich bleiben diese Einschätzungen ohne fundierte wissenschaftliche Begründung. Diese Forschungslücke zu schließen ist das Anliegen dieser Dissertation - im Einzelnen die Narrativität der Malereien Neo Rauch näher zu bestimmen und auf diesem Wege eine längst überfällige begriffliche und methodische Konturierung des kunsthistorischen Problemfeldes „Narration im Bild“ vorzunehmen.
Den theoretischen Ausgangspunkt bilden Überlegungen auf dem Gebiet der Narratologie, wobei zunächst ein Einblick in die Genese des Problems der Bilderzählung in der Narratologie gegeben wird (Kapitel 2) und anschließend ein Überblick über den Forschungsstand sowohl in der Kunstgeschichte als auch in der Narratologie (Kapitel 3). Darauf aufbauend wird ein Modell vorgeschlagen, mithilfe dessen die Narrativität figurativer Bilder untersucht werden kann. Dazu wird einerseits, in Anlehnung an das Modell einer transmedialen Erzähltheorie von Werner Wolf, das Narrative als kognitives Schema definiert. Dieses nutzen Rezipienten, um Werken einen Sinn zu verleihen, und zwar solchen Werken, die eine Reihe von Narremen ansprechen. Andererseits wird das Modell zu einem Analyseverfahren hin konkretisiert, das die praktische erzähltheoretische Analyse kunsthistorischen Bild- und Textmaterials erlaubt (Kapitel 4). Im Kern sieht es vor, zunächst die zu einem Bild vorliegenden Bildbeschreibungen zu vergleichen und ihre Relation zum im Bild Sichtbaren zu analysieren, und in einem nächsten Schritt die Realisierung der Wolf’schen Narreme zu untersuchen.
Am Beispiel dreier ausgewählter Malereien Neo Rauchs aus den Jahren 2005 und 2006 wird schließlich erörtert, inwiefern Neo Rauchs Malereien im Sinne des Modells als narrativ gelten können (Kapitel 5 bis 7). Dabei wird deutlich, dass die betrachteten Malereien zwar nicht narrativ sind, aber über eine sehr starke „narrationsindizierende Wirkung“ verfügen. Weiterhin lässt sich aus der Untersuchung ein werkspezifischer Umgang mit dem Narrativen ableiten, in dem das Prinzip der Bedeutungsoffenheiten ein zentrales Moment bildet (Kapitel 8). Die Auswertung begleitend wird das Erzählmodell Wolfs für das Medium Bild weiter ausdifferenziert (Kapitel 8), insbesondere hinsichtlich des theoretisch unterdeterminierten Begriffs der „narrationsindizierenden Wirkung“.