Die Verwendung von Wasserstoff als temporäres Legierungselement entlang der thermomechanischen Prozessroute gilt als vielversprechender Ansatz zur Verbesserung der mechanischen Eigenschaften, insbesondere im Fall von Titangusslegierungen.
Die vorliegende Arbeit zeigt, dass die thermohydrogene Behandlung (THP) auch im Fall komplexer metastabiler Beta-Titanlegierungen die quasi-statische und dynamische Festigkeit verbessert, in dem die Reversibilität der Titan-Wasserstoffreaktion zu Nutze gemacht und gezielt auf Phasengleichgewichte, die Phasenumwandlungskinetik und Legierungselementverteilung Einfluss genommen wird. Der Prozessentwicklung liegen zwei Beta-Titanlegierungen zugrunde, die sich hinsichtlich ihrer Beta-Stabilisierung deutlich voneinander abgrenzen.
Die thermohydrogene Behandlung der hochstabilisierten Beta-Titanlegierung Ti-3Al-8V-6Cr-4Mo-4Zr (Ti-38644) führt zu einer Erhöhung der Streckgrenze um mehr als 4 % und der Dauerfestigkeit um 8 % im Vergleich zu einem duplex-ausgelagerten Referenzgefüge. Bei dem 5-stufigen Hi-Read-Verfahren (Hydride-induced Rearrangement of Dislocations) gelingt eine Optimierung des Ausscheidungsverhaltens der sekundären Alpha-Phase in einem vollständig rekristallisierten Beta-Gefüge, ausgehend von einer hydridinduzierten Versetzungsvervielfachung im Beta-Mischkristall. Die Namensgebung für den THP erfolgt in Anlehnung an den von Frank Read beschriebenen Mechanismus der Versetzungsneubildung.
Das auf die hochfeste Beta-Titanlegierung Ti-10V-2Fe-3Al (Ti-1023) angewandte 4-stufige HiRe-Beta-Verfahren (Hydride-induced Recrystallization of Beta-Phase) bietet die beste Möglichkeit zur Festigkeitsoptimierung durch Maximierung des Ausscheidungsdrucks für die sekundäre Alpha-Phase. Die hydridinduzierte Rekristallisation der Beta-Phase bewahrt zeitgleich ein feinkörniges Beta-Grundgefüge trotz vollständiger Destabilisierung der globularen primären Alpha-Phase. Verglichen mit der technisch wärmebehandelten near-Beta-Titanlegierung steigert der THP die Streckgrenze um über 8 %. Das Versagen der Proben im elastischen Bereich der Spannungs-Dehnungskurve wird auf das Vorhandensein prozessbedingter Randrisse zurückgeführt.
Die für Beta-Titanlegierungen entwickelten THP unterscheiden sich grundsätzlich in der Art der Wasserstoffaufnahme, welche beim Hi-Read-Verfahren zeitunabhängig durch Sievertssche Hydrogenation bei höheren Temperaturen erfolgt. Beim HiRe-Beta-Prozess setzt die für die Gefügeoptimierung so wichtige Hydridbildung bereits während der Wasserstoffbeaufschlagung bei niedrigen Temperaturen ein, sodass die Hydrogenationsdauer über den Volumenanteil an ausgeschiedenen Hydriden mitentscheidet (zeitabhängiges Verhalten).
Die Festlegung thermohydrogener Prozessstrategien erfolgt für beide Beta-Titanlegierungen ausgehend von Untersuchungen zum Gefügeeinfluss auf die mechanischen Eigenschaften. Diese belegen einen Abfall von Streckgrenze und Dauerfestigkeit sowie eine Begünstigung der Rissausbreitung durch die Bildung von ausscheidungsfreien Zonen und Alpha-Säumen an Korngrenzen.
Durch Untersuchungen zur Kinetik und Thermodynamik der Wasserstoffaufnahme und zum Wasserstoffeinfluss auf die Phasenstabilität können definierte Hydrogenationszustände in den beiden metastabilen Beta-Titanlegierungen Ti-38644 und Ti-1023 realisiert werden.
Die Auswertung von Wasserstoffkonzentrationsprofilen in nach elektrochemischer Wasserstoffabscheidung diffusionsgeglühten Stabproben dient der Ermittlung von Wasserstoffdiffusionskoeffizienten, die unter Annahme einer idealen Wasserstoffsorption die Bestimmung von (De-)Hydrogenationszeiten auf Basis numerischer Methoden erlauben.
Volumetrische Messungen zeigen, dass eine rein diffusionskontrollierte Wasserstoffaufnahme selbst bei Temperaturen oberhalb der Stabilitätsgrenze des Titanoxids nicht zu realisieren ist. Dieser Oberflächeneinfluss wird bei der Abschätzung der Zeiten für die vollständige (De-)Hydrogenation durch Korrekturfaktoren berücksichtigt, welche eine homogene Wasserstoffverteilung bei definierten Wasserstoffkonzentrationen in den Probenquerschnitten gewährleisten.
Das galvanische Beschichten von Proben beider Beta-Titanlegierungen mit dem Wasserstoffabsorber Palladium beschleunigt die Kinetik der Wasserstoffaufnahme deutlich, sodass praktikable Prozesszeiten auch bei niedrigen Prozesstemperaturen realisiert werden können.
Für beide Beta-Titanlegierungen zeigt sich mit steigender Wasserstoffkonzentration eine starke Absenkung der modifizierten Phasenübergangstemperatur (Beta-Transus). Bei Ti-38644 fällt dieser bis zum Einsetzen der eutektoiden Umwandlung der Beta-Phase in Alpha- und Hydridphase ab. Bei Ti-1023 sinkt der modifizierte Beta-Transus kontinuierlich bis zum Erreichen der eutektoiden Temperatur und bleibt dann über einen größeren Bereich der Wasserstoffkonzentration konstant. Da der Hydridbildung bei der thermohydrogenen Gefügeoptimierung zweiphasiger Titanlegierungen eine Schlüsselrolle zukommt, wird die Löslichkeitsgrenze des Beta-Mischkristalls in den Zustandsdiagrammen der beiden Beta-Titanlegierungen grob eingegrenzt.
Die Kenntnis der modifizierten Phasenübergangstemperatur und der Löslichkeitsgrenze des Beta-Mischkristalls für Wasserstoff ist von essentieller Bedeutung, erlaubt sie doch die Festlegung thermohydrogener Prozessrouten in den Zustandsdiagrammen der metastabilen Beta-Titanlegierungen Ti-38644 und Ti-1023.
Die thermohydrogen in den beiden metastabilen Beta–Titanlegierungen Ti-38644 und Ti-1023 hervorgerufenen Gefügezustände liegen außerhalb der Möglichkeiten konventioneller Wärmebehandlungsmaßnahmen. Zudem bieten Hi-Read und HiRe-Beta-Prozess Möglichkeiten zur graduellen Gefügeanpassung an praxisrelevante Beanspruchungsfälle, sodass die thermohydrogenen Prozesse alle Merkmalle eines innovativen Wärmebehandlungsverfahrens aufweisen.