Das Problem wie eine Gesellschaft mit ihren armen, bedürftigen und alten Mitgliedern umgeht, wo sie ihren Platz finden, gehört zu den zentralen Fragen auch noch unserer Zeit, die weit davon entfernt sind, abschließend beantwortet zu sein.
Verfolgt man dabei die Debatten der letzten Jahrhunderte finden sich zahlreiche Kontinuitäten, die den Armutsdiskurs bestimmen. Eine dieser Grundfragen berührt in ihrer praktischen Ausgestaltung zwangsläufig den Aspekt, welche finanziellen Ressourcen die Sozialgemeinschaft zur Verfügung zu stellen bereit ist. Dass dabei fiskalische Überlegungen wünschenswerte Konzepte auf ein "bezahlbares Maß" zurechtstutzen, galt umso mehr in einer Zeit, als Finanzierungsmodelle wie der neuerdings viel diskutierte Generationenvertrag nahezu unbekannt waren. Ein ausgeglichener Haushalt war für die meistens Städte und ihre Sozialeinrichtungen nicht nur ein wünschenswertes Ergebnis jährlicher Bilanzierungen, der gegeben falls durch Neuverschuldungen zumindest buchhalterisch hergestellt werden konnte, sondern eine unverzichtbare Bedingung ihrer Sozialpolitik und weitergehend anstaltlicher Wirtschaftsführung. Vor dem Hintergrund dieser grundlegenden Fragen thematisiert diese Arbeit einen der Kernbereiche städtischer Fürsorge - die Versorgung Bedürftiger im Hospital.
Im Zentrum der Interessen stehen die Wirtschaftsführung und die Organisationsstruktur des Hospitals sowie die vielfältigen Funktionen der Anstalt als wirtschaftlicher Großbetrieb, kommunales Kreditinstitut und Einrichtung der städtischen Armenfürsorge in Siegen und Meersburg im Kontext der frühneuzeitlichen Entwicklung beider Anstalten. Anhand der seriellen Rechnungsüberlieferung des Siegener und Meersburger Spitals in Spätmittelalter und früher Neuzeit lassen sich Organisationsaufbau, Funktionswandel und Alltagswirklichkeit der Anstalten im Gefüge des städtischen Fürsorgewesens darstellen und bewerten. Der methodische Zugriff einer Kombination von empirisch-quantitativer Analyse und dichter Beschreibung erlaubt über die Analyse des strukturellen Aufbaus und der konjunkturellen Entwicklung der Häuser hinaus einen Einblick in deren Alltag. Dabei ermöglicht der überregionale Ansatz eine stärkere Differenzierung zwischen strukturellen Eigenheiten dieser Form von Hospitälern und lokalen Einflussfaktoren, die gerade nicht zu verallgemeinern sind. Es werden damit im Sinne einer modernen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte wie auch Alltagsgeschichte strukturelle Zusammenhänge erfasst, die allerdings erst auf der Basis breit gefächerter Detailstudien zu verallgemeinernde Schlussfolgerungen erlauben.
Die Vielschichtigkeit anstaltlicher Fürsorge angemessen zu erfassen, stellt auch nach zahlreichen Monographien zum Hospitalwesen ein Problem dar. Einige in der Forschung bislang als mehr oder weniger gesichert geltende Periodisierungen und Typologisierungen sowie Darstellungen allgemeiner Entwicklungstendenzen im Hospitalwesen erweisen sich bei einer Übertragung auf einzelne Hospitäler als unzureichend. So ist z.B. der in der neuesten Forschung zum Hospitalwesen oft betonte Funktions- und Strukturwandel der Anstalten an der Wende vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit nicht in jedem Hospital nachzuweisen; mit anderen Worten sollte zwischen Funktionswandel und Weiterentwicklung differenziert werden.
Die Rechnungsüberlieferung bietet über die Institution Spital hinaus weitere Erkenntnismöglichkeiten, die eine Darstellung und Bewertung der strukturellen und funktionalen Einbindung der Anstalten in das städtische Leben erlauben. Das Spital als Grundherr, als Kreditinstitut, als Arbeitgeber für das städtische Handwerk und nicht zuletzt als Versorgungsanstalt, blieben die zentralen Funktionen, welche von den Spitälern über Jahrhunderte ausgefüllt wurden und deren Gewicht sich in den Spitalrechnungen widerspiegelt. Obwohl de jure auch nach der Kommunalisierung die Spitalhaushalte eigenständig blieben, bestanden Verbindungen zum städtischen Haushalt, die de facto vielfach über verwaltungstechnische Gemeinsamkeiten der Anstaltsleitung und des Magistrats hinausgingen und eine Charakterisierung der Spitalhaushalte als kommunale Sonderhaushalte rechtfertigen. Nicht zuletzt durch diesen Sachverhalt war es dem städtischen Magistrat vielfach möglich seinen Einfluss auf das Umland der Kommune auszudehnen.