In der vorliegenden Arbeit wurde das Ausbreitungsverhalten von kurzen Ermüdungsrissen in einem metastabilen austenitischen Edelstahl (X2CrNi18-9) bei der Ermüdung im Bereich der Dauerfestigkeit untersucht. Neben Versuchen an servohydraulischen Prüfmaschinen erfolgten Experimente zum Ausbreitungsverhalten kurzer Ermüdungsrisse an einem eigens entwickelten Miniaturprüfsystem in-situ im Rasterelektronenmikroskop. Weil das Rissausbreitungsverhalten an Luft für die Praxis relevant ist, wurde der Fokus der Untersuchungen auf die Ermüdung an Luft gelegt. Es zeigt sich, dass Ermüdungsrisse bei Belastungen im HCF-Bereich mit einer Wahrscheinlichkeit von 70 % an Zwillingsgrenzen initiieren. Die hohe elastische Anisotropie des Werkstoffes bewirkt eine abweichende räumliche Steifigkeit von benachbarten Zwillingskörnern. Unter Belastung entsteht eine elastische Fehlpassung der Zwillinge, die Kompatibilitätsspannungen im Bereich der Oberfläche an der Zwillingsgrenze verursacht. Da eine Zwillingsgrenze im kfz Gitter auch ein Gleitsystem vom Typ {111} darstellt, führt die hier vorzufindende hohe plastische Aktivität zum Aufreißen dieser Grenzen. Die frühe Rissausbreitung findet durch eine Überlagerung von alpha'-Martensitbildung und Risswachstum statt. Das Spannungsfeld vor der Rissspitze bewirkt Schubspannungen auf zwei verschieden orientierte Gleitebenen. Diese werden infolgedessen geschert und bilden Scherprodukte, wie Stapelfehler und später alpha'-Martensit. In Bereichen, in denen sich die Scherprodukte überschneiden, beginnt die Phasentransformation. Es kommt schließlich zu einer vollständigen Umwandlung der plastischen Zone vor den Rissspitzen in homogen orientierten alpha'-Martensit. Der Rissfortschritt erfolgt zunächst in einem schubspannungskontrollierten Stadium I-Risswachstum unter Einfachgleiten auf einem {110}-Gleitsystem des gebildeten krz alpha'-Martensit. Mit dem Erreichen einer kritischen Risslänge (zumeist mit dem Überschreiten der ersten Korngrenze) kann ein Wechsel des Ausbreitungsverhaltens hin zu einem normalspan-nungskontrollierten Risswachstum unter der Aktivierung und dem Risswachstum auf wechselnden Gleitebenen im alpha'-Martensit beobachtet werden. Die kristallographische Orientierung des gebildeten alpha'-Martensits zeigt sich zunehmend heterogen, was auf die Aktivierung von multiplen Gleitsystemen im gamma-Austenit zurückzuführen ist. Der Vergleich mit in der Literatur zu findenden Rissausbreitungsgeschwindigkeiten kurzer Risse in stabilem austenitischen Edelstahl zeigt, dass im hier untersuchten metastabilen austenitischen Edelstahl die Phasen-transformation in der plastischen Zone einen stark verzögernden Einfluss auf die Ausbreitungsgeschwindigkeit hat. Dies kann auf die mit der Phasentransformation einhergehende Volumenzunahme zurückgeführt werden, die ein Rissschließen verursacht und damit die Triebkraft für die Rissausbreitung verringert.