Untersuchungsgegenstand der Arbeit sind kulturkritische Denkstrukturen in der Jugendbewegung ’Wandervogel’, dem einflussreichsten deutschen Jugendbund vor dem Ersten Weltkrieg. Obwohl als Wanderverein gegründet, stand der Wandervogel in Beziehung zu den zu Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreich kursierenden kultur- und gesellschaftskritischen Entwürfen und widmete sich schon bald intensiv dem Themenkomplex der Kulturerneuerung.
Nach einer begriffs- und bedeutungsgeschichtlichen Klärung der Bezeichnung ’Kulturkritik’ beziehungsweise des Adjektivs ’kulturkritisch’ geht es um den historischen und gesellschaftlichen Kontext, in dem die Wandervogelbewegung entstand und sich entwickelte. Es werden insbesondere die vorherrschende Mentalität während der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sowie die Kulturemphase und die letztlich hieraus resultierende Kulturkritik des Bürgertums berücksichtigt. Zu den für diese Arbeit relevanten Tendenzen der Jahrhundertwende gehören außerdem die Aufwertung des Jugend- und Kindesalters und die damit einhergehenden Bestrebungen, Einfluss auf die Jugend zu gewinnen.
Anschließend widmet sich die Arbeit ausführlich der Entstehungs- und ersten Entwicklungs-geschichte des Wandervogels, seinen Aktivitäten und seinen Idealen.
Wesentliche Bestandteile des kulturellen Lebens im Wandervogel waren die rezipierte Literatur, ein komplexes Zeitschriftenwesen und eine intensive Auseinandersetzung mit Musik als kultureller Ausdrucksform. Außerdem spielten Feste und Tagungen eine wichtige Rolle im Vereinsleben. Diese vier Bereiche – Literatur, Zeitschriften, Musik und Veranstaltungen – bilden die Untersuchungsschwerpunkte der vorliegenden Arbeit. Neben rezipierten und produzierten Werken und Elementen des kulturellen Lebens werden auch die jeweils zugehörigen Diskurse innerhalb der Bewegung und die nach außen gerichtete Kommunikation miteinbezogen. Der letzte Teil dieser Untersuchung, der sich den Veranstaltungen der Bewegung widmet, berücksichtigt auch den Ersten Freideutschen Jugendtag 1913 und behandelt verstärkt die Selbstdarstellung sowie die – versuchte – Beeinflussung der Bewegung durch Außenstehende.
Obgleich der Wandervogel auch nach dem Ersten Weltkrieg noch bestand, begrenzt sich die Untersuchung zeitlich auf die Jahre zwischen 1896 und 1914, also die Entstehungszeit und erste Bestehensphase der Bewegung, da sich Struktur und inhaltliche Ausrichtung des Wandervogels ab Kriegsbeginn stark veränderten.