Die Ermüdungslebensdauer metallischer Hochleistungswerkstoffe ist häufig bis zu 90% durch die Mechanismen der Rissinitiierung und der frühen Rissausbreitung bestimmt. Diese Phasen des Ermüdungsschädigungsprozesses sind weder durch die herkömmlichen Methoden der zerstörungsfreien Werkstoffprüfung, wie z.B. die Ultraschallprüfung, quantifizierbar, noch können sie durch die gängigen Verfahren der Bruchmechanik adäquat abgebildet werden.
Vor diesem Hintergrund befasst sich die vorliegende Habilitationsschrift mit der
experimentellen Aufklärung und mathematischen Modellierung von Wechselwirkungen
zwischen der Werkstoffmikrostruktur, der lokalen mechanischen Beanspruchung und dem damit in Verbindung stehenden Ausbreitungsverhalten von kurzen Rissen. Anhand von Wechselverformungsversuchen an servohydraulischen Prüfmaschinen in Kombination mit laserinterferenzgestützten lokalen Dehnungsmessungen (ISDG) und eingehenden mikrostrukturellen Untersuchungen, vor allem mit Hilfe der Rasterelektronenmikroskopie und der Rückstreuelektronenbeugung (EBSD), konnten sowohl die Rissinitiierungsorte als auch die Risspfade als Konsequenz der lokalen mikrostrukturellen Eigenschaften, wie elastische Anisotropie oder Missorientierung der Gleitsysteme benachbarter Körner, identifiziert werden.
Bei hohen Temperaturen ist die Ermüdungsrissausbreitung zunehmend durch
Atmosphäreneffekte beeinflusst. So führen Haltezeiten bei maximaler Zugbelastung bereits bei Temperaturen unterhalb des Kriechverformungsbereichs in der Nickelbasis-Superlegierung IN718 zu einem Übergang von zyklenabhängiger transkristalliner zu zeitabhängiger interkristalliner Rissausbreitung, verbunden mit einem dramatischen Anstieg der Rissausbreitungsrate. Mit Hilfe von Experimenten an polykristallinen und bikristallinen Proben konnte gezeigt werden, dass dieser als "dynamische Versprödung" identifizierte Haltezeiteffekt erheblich von der Struktur der betroffenen Korngrenzen abhängt.
Die experimentellen Ergebnisse werden anhand physikalischer Modelle, die im Rahmen interdisziplinärer Projekte gemeinsam mit Wissenschaftlern aus dem Gebiet der Mechanik entwickelt wurden, diskutiert. Diese Modelle ermöglichen eine mechanismenorentierte Vorhersage der Ermüdungslebensdauer.