Das sozialpolitische Denken in Deutschland hat überwiegend auf eine prinzipientheoretische Begründung der Sozialpolitik verzichtet. Eine Ausnahme bildet der gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstandene katholische Solidarismus. Aufgrund der ontologischen Voraussetzungen, die nicht mit dem für die moderne politische Theorie konstitutiven Kontraktualismus zu vereinbaren sind, sind seiner Wirkung aber enge Grenzen gesetzt. Anders stellt sich die Situation in Frankreich dar. Hier findet sich mit dem französischen Solidarismus eine wirkungsmächtige Sozialdoktrin, die das Werk angesehener Politiker, Juristen und Ökonomen der dritten Französischen Republik ist. Im Unterschied zur solidaristischen Tradition im deutschen Katholizismus, fassen die französischen Solidaristen das Solidaritätsprinzip dabei vertragstheoretisch auf. Es fragt sich, ob sich hier nicht eine allgemeine Perspektive für die Begründung des Sozialstaats bietet, die bislang in Deutschland nur unzureichend wahrgenommen wurde. Im vorliegenden Aufsatz wird die These entwickelt, dass zwar die Zielsetzung des französischen Solidarismus überaus vielversprechend ist, der eigentliche Begründungsgang der Theorie aber zurückgewiesen werden muss. Abschließend soll dargelegt werden, inwiefern dennoch der eigentliche Anspruch des französischen Solidarismus mit anderen, nämlich kantischen Mitteln eingelöst werden kann.