Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) als Störung des Erwachsenenalters ist durch die Symptome Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivität, Impulsivität, Desorganisation und emotionale Instabilität gekennzeichnet. Als zugrundeliegendes Hauptdefizit wird eine Störung der Hemmungskontrolle angenommen. Auch bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) wurden in der Vergangenheit mehrere Studien zur Funktionalität der präfrontalen Funktionen durchgeführt, die zu widersprüchlichen Ergebnissen führten. ADHS und BPS teilen verschiedene Symptome, z.B. die der Impulsivität, affektiven Instabilität und Schwierigkeiten hinsichtlich der Ärgerkontrolle, so dass eine mögliche Assoziation zwischen beiden Störungsgruppen nicht ausgeschlossen ist.
Die vorliegende Studie untersucht drei verschiedene spezifische Prozesse der Hemmungskontrolle (Hemmung von Handlungsimpulsen; Unterbrechung fortlaufender Handlungen und Interferenzkontrolle) bei ADHS-Patienten im Vergleich zu BPS- und komorbiden ADHS+BPS-Patienten sowie Kontrollprobanden (KP). Außerdem wurden zwei psychometrische Fragebögen zur Impuls- und Ärgerkontrolle eingesetzt.
Es zeigt sich, dass ADHS-Patienten signifikant schlechtere Ergebnisse als BPS-Patienten und KP in der "Stop Signal Reaction Time" (SSRT), dem Indikator für die Hemmungskontrolle fortlaufender motorischer Reaktionen, und gegenüber KP in der Konfliktaufgabe (Interferenzkontrollaufgabe) der "Attention Network Task" (ANT) erzielen. Dagegen unterscheiden sie sich von keiner Gruppe hinsichtlich der Hemmung von Handlungsimpulsen (Go/No-go Aufgabe) und in einem zweiten Test zur Interferenzkontrolle, dem Stroop Test. Darüber hinaus zeigen sich die in der Literatur bei ADHS-Patienten bereits häufig beobachteten unspezifischen längeren Reaktionszeiten. Auf den Subskalen der Barratt Impulsivitätsskala (BIS-10) zeigt sich ein Gruppeneffekt: ADHS- und komorbide ADHS+BPS-Patienten scoren höher als BPS-Patienten und KP. Dieser Effekt wird auch auf der Subskala Ärgerkontrolle des State-Trait-Ärgerausdrucksinventar (STAXI) gesehen. Die Ergebnisse der SSRT korrelieren mit den Fragebogendaten der motorischen und kognitiven Impulsivität sowie der Ärgerkontrolle, während die ANT-Konfliktaufgabe ausschließlich mit der kognitiven Impulsivität korreliert. Inwieweit jedoch die Hemmungskontrolldefizite und eine erhöhte Impulsivität bei der ADHS kausal zusammenhängen, bleibt spekulativ. Die Daten der Stop Signal Aufgabe sind mit der Theorie einer beeinträchtigten Unterbrechung fortlaufender motorischer Handlungen als Defizit bei der ADHS konsistent. Komorbide ADHS+BPS-Patienten unterscheiden sich nicht signifikant von solchen mit einer reinen ADHS-Störung in irgendeiner kognitiven Aufgabe. Wie die reinen ADHS-Patienten zeigen sie signifikant schlechtere Leistungen in der Stop Signal Aufgabe im Vergleich zu KP, was den robusten Befund erwachsener ADHS-Patienten für ein Defizit hinsichtlich des Stoppens fortlaufender Handlungen unterstreicht. Das gesamte neuropsychologische Leistungsprofil, die Reaktionszeiten und intraindividuellen Varianzen eingeschlossen, zeigt insgesamt schlechtere Leistungen bei komorbiden ADHS+BPS-Patienten im Vergleich zu BPS-Patienten und KP, aber bessere Ergebnisse als bei reinen ADHS-Patienten. Die psychometrischen Ergebnisse der Skalen zeigen, dass sich die Patientengruppen hinsichtlich ihrer Impulsivitätswerte überschneiden: BPS-Patienten überlappen auf der Skala Ärgertemperament (STAXI) und Planlosigkeit (BIS) mit ADHS-Patienten mit und ohne komorbider BPS, wenngleich ihre Werte auf eine weniger stark ausgeprägte Dysfunktionalität hinweisen. Konsistent mit ihren intakten Leistungen bei Aufgaben der Hemmungskontrolle weisen sie keine höheren Werte in Bezug auf ihre motorische und kognitive Impulsivität auf, das heißt, mit denjenigen psychometrischen Messungen, welche mit neuropsychologischen Maßen der Hemmungskontrolle korrelieren. BPS-Patienten, aber nicht ADHS+BPS-Patienten berichten über gegen sich selbst gerichteten Ärger.
Abschließend bekräftigen die vorliegenden Ergebnisse eine Störung der Hemmungskontrolle bei erwachsenen ADHS-Patienten nur teilweise. Offen bleibt auch, warum komorbide ADHS+BPS-Patienten höhere Impulsivitätswerte, aber keine neuropsychologischen Beeinträchtigungen zeigen. Die Daten lassen vermuten, dass ADHS und BPS zwei verschiedene Störungen sind, die einige Verhaltenssymptome teilen, aber keine gemeinsamen Aufmerksamkeits- und im speziellen Defizite in der Hemmungskontrolle haben. Nigg et al. (2005) unterstreicht die zentrale Rolle einer reinen emotionalen Reaktivität bei der BPS, welche die Kapazitäten des exekutiven Kontrollsystems überbeanspruchen könnte. Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, die BPS und ADHS in neuropsychologischen Paradigmen, welche die Emotionalität berücksichtigen, weiter zu untersuchen.