Ausgehend von der Beobachtung, dass das Internet durch seine partizipativen Strukturen eine Pluralisierung von Wirklichkeitsdeutungen ermöglicht, wird in dieser Diplomarbeit die wissenssoziologische Frage aufgeworfen, ob dies zu einer Stärkung gesellschaftlich marginalisierter Wissensformen führt. Als Fallbeispiel dienen dabei alternative Deutungen der Terroranschläge des 11. September 2001. Wie gezeigt wird (Kapitel 1.), sind diese von der Mainstream-Interpretation der Ereignisse abweichenden Deutungen in mehrerer Hinsicht äußerst heterogen und verfügen über eine signifikante gesellschaftliche Verbreitung. In der öffentlichen, d.h. insbesondere in der massenmedialen Wahrnehmung, werden sie in der Regel als "Verschwörungstheorien" stigmatisiert und pathologisiert. Auch in der wissenschaftlichen Literatur findet sich diese Etikettierung, die aber aus wissenssoziologischer Perspektive nicht optimal erscheint, da sie keine zufriedenstellende Erklärung für die Entstehung und Popularität dieser Sinnwelten bietet.
Daher wird im Anschluss an den einführenden Teil eine konstruktivistische Perspektive auf den Forschungsgegenstand entwickelt, die einen Blick auf die Konstruktionsprozesse dieser gesellschaftlichen Wirklichkeiten ermöglichen soll (Kapitel 2.). Dazu werden die technischen und sozialen Rahmenbedingungen, die durch das Internet gegeben werden und ihre Auswirkungen auf diese Prozesse besonders hervorgehoben. Denn wie gezeigt wird, spielen die hier entstehenden Strukturen eine kaum zu unterschätzende Rolle für die gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktion. Die Pluralisierung gesellschaftlichen Wissens, die mit den neuen Distributionsmöglichkeiten des Internets einhergeht, wirft eine zentrale wissenssoziologische Frage auf: Wie wird in diesem technisch-sozialen Kontext entschieden, was als (allgemein) gültige gesellschaftliche Wirklichkeit anerkannt wird?
An prominenter Stelle wird diese Frage im Internet in der Online-Enzyklopädie Wikipedia ständig bearbeitet. Da diese grundsätzlich frei zugänglich und auch weitestgehend editierbar ist, muss hier fortlaufend ausgehandelt werden, was in Form enzyklopädischer Artikel als allgemein gültige, objektivierte gesellschaftliche Wirklichkeit definiert wird. In erster Linie geschieht dies in den angegliederten Diskussionsseiten, die das wesentliche empirische Datenmaterial zu dieser Diplomarbeit liefern. Daher wird zunächst Wikipedia inklusive ihrer Funktionsprinzipien vorgestellt und vor dem zuvor dargelegten theoretischen Hintergrund beleuchtet (Kapitel 3.). Dabei wird die oben aufgeführte allgemeine Fragestellung weiter spezifiziert, auf das zugrunde liegende Datenmaterial bezogen und angepasst. Anschließend wird dieses hinsichtlich seiner besonderen methodologischen Erfordernisse betrachtet, wobei auch auf die gewählte Methode der qualitativen Inhaltsanalyse bzw. der Grounded Theory und die verwendete Software eingegangen wird (Kapitel 4.).
Die darauf folgende empirische Analyse offenbart wiederkehrende Strukturen, die sich im Laufe der untersuchten Diskussionen entwickeln (Kapitel 5.). Sie zeigt, dass die Anhänger der alternativen Deutungen intensiv von den offenen Strukturen Wikipedias Gebrauch machen, indem sie versuchen, ihre Sichtweise in den Artikel zu integrieren. Dies gelingt ihnen zum Teil auch, allerdings nur unter der deutlichen Stigmatisierung als "Verschwörungstheorien". Gleichzeitig wird durch die permanente Hinterfragung von Grundannahmen der Diskurs überfordert. Die Wikipedia-Community reagiert darauf, indem sie zum einen alternative Deutungen auslagert (in einem zusätzlichen Artikel bzw. seinen Diskussionsbereich). Zum anderen werden strenge Inklusionsbedingungen aufgestellt, die vor allem einen hohen Grad gesellschaftlicher Institutionalisierung zum Aufnahmekriterium von Wissen im Artikel bzw. den Diskussionsbereich machen. Diese Ergebnisse werden abschließend zusammenfassend dargestellt und hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Bedeutungsebenen diskutiert (Kapitel 6.).