Ein wesentliches Element im Lebenszyklus von Insekten der gemäßigten Klimazonen stellt die Dormanz dar. Hierbei handelt es sich um eine Phase der Entwicklungsruhe, die zur Überbrückung ungünstiger Umweltbedingungen auftreten kann. Bei mitteleuropäischen Feldheuschrecken tritt eine solche Entwicklungsruhe während der Embryogenese im Verlauf des Winters auf, wobei als Dormanzform bislang eine obligatorische Diapause angenommen wurde. Nach dem Ende der Winterruhe ist das Timing des Schlupfgeschehens von Bedeutung, da das Auftreten der Larven im Frühjahr optimal mit der Verfügbarkeit von Ressourcen für Wachstum, Entwicklung und Reproduktion zusammenfallen sollte. Sowohl die Lage des Diapause-Stadiums als auch die Feinabstimmung von Induktion und Beendigung der Diapause dürften diesbezüglich ein wesentlicher Bestandteil der Lebenszyklus-Strategie sein. Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Embryonalentwicklung der beiden einheimischen Feldheuschrecken "Chorthippus montanus" und "Chorthippus albomarginatus". Bearbeitet werden drei große Themenkomplexe: Der Verlauf der Embryonalentwicklung, die Temperaturabhängigkeit der Embryogenese sowie der Larvenschlupf.
Die Embryonalentwicklung lässt sich in einem einheitlichen Entwicklungsschema mit 20 Stadien in 9 Phasen darstellen. Während der Embryogenese zeigen beide Arten eine Entwicklungsruhe (Diapause), die bei "Chr. montanus" im Entwicklungsstadium Va (Beginn der Katatrepsis) und bei "Ch. albomarginatus" im Stadium IVd (Ende der Mesentrepses) erfolgt. Grundsätzlich kann die Embryonalentwicklung nach vier Entwicklungsmustern ablaufen: Diapause-, Non-Diapause-, Subitan-Entwicklung, Überliegen. Dabei stellt sich die Diapause-Entwicklung als Grundtypus der Embryonalentwicklung dar, sofern der Embryo die Gelegenheit dazu bekommt, sich vor der Winterruhe bis zum Diapause-Stadium zu entwickeln. Wird das Diapause-Stadium vor der Winterruhe (VWR) jedoch durch eine frühzeitige Kälteperiode verfehlt, überwintert der Embryo in dem Stadium, das er erreichen konnte. Die Besonderheit dieses bislang noch nicht beschriebenen Entwicklungstyps besteht darin, dass sich die Embryonen nach der Winterruhe (NWR) i.d.R. in einem Non-Diapause-Modus ohne Entwicklungsruhe bis zum Larvenschlupf weiterentwickeln können. Für beide Arten lässt sich zeigen, dass Induktion oder Unterdrückung der Diapause offenbar erst im Verlauf der Embryogenese auftreten, wobei die Bebrütungsgeschichte der Eier über den Entwicklungsweg entscheidet, während maternale Effekte offenbar keinen oder nur einen untergeordneten Einfluss auf die Diapause haben. Zur Temperaturabhängigkeit der Embryogenese lässt sich zeigen, dass der Entwicklungsnullpunkt (t0) keinesfalls konstant ist und t0(VWR) bei beiden Arten deutlich unter t0(NWR) liegt. Starke Hinweise bestehen dafür, dass der Entwicklungsnullpunkt innerhalb der VWR mit fortschreitendem Entwicklungsstadium sogar abnimmt. Dieser Effekt wird als eine optimale Anpassung an saisonale Temperaturbedingungen im Verlauf der individuellen Lebensgeschichte angesehen. Zu den Temperatursummen (K) lässt sich zeigen, dass der Wärmebedarf der VWR-Entwicklung deutlich über dem Wärmebedarf der NWR-Entwicklung liegt. Dabei besteht für die gesamte Embryogenese offenbar ein konstanter Gesamt-Wärmebedarf, wobei eine fehlende VWR-Entwicklung nach der Winterruhe nachgeholt werden kann.
Bezüglich der Lebenszyklus-Strategie von Feldheuschrecken lassen die Ergebnisse eine außerordentliche Plastizität der Embryonalentwicklung erkennen, wodurch sich zwei getrennte Entwicklungswege ergeben: Diapause-Entwicklung und Non-Diapause-Entwicklung. Dabei bestimmt im Verlauf einer Fortpflanzungssaison allein der Ablagetermin der Oothek in Verbindung mit den saisonalen Witterungsverhältnissen, nach welchem Entwicklungsmodus sich ein Embryo entwickelt.