Im Hinblick auf die Tatsache, dass sich ein Großteil der bisher erzielten Ergebnisse in der Wirt-Gast-Chemie auf die Entwicklung Lewis-basischer Wirtverbindungen und deren Einsatz in der Komplexierung Lewis-saurer Gäste beschränkt, birgt die Erforschung der inversen Situation
ein erhebliches Potential. Im Rahmen dieser Arbeit konnten dazu in mehreren wichtigen Bereichen neue Erkenntnisse gewonnen werden, indem neben der Synthese neuartiger, starrer organischer Grundgerüste und ihrer Funktionalisierung mit Lewis-sauren Atomen auch die Wirt-
Gast-Chemie erstmals detailliert untersucht wurde.
So wurden zunächst durch Kreuzkupplungsreaktionen diverse zwei- und dreifach Alkinyl-substituierte Anthracen-Derivate synthetisiert. Die photochromen Verbindungen ließen sich durch photochemische Reaktionen in die entsprechenden syn- und/oder anti-Photodimere überführen,
wodurch neue gerichtete und vielseitig funktionalisierbare Verbindungen generiert werden konnten.
Ein besonders interessantes Verhalten zeigte sich dabei bei 9,10-Bis[(trimethylsilyl)ethinyl]anthracen (11) zum Photodimer 20. Die Dimerspezies erweist sich als verhältnismäßig thermolabil und wandelt sich bereits nach wenigen Stunden bei Raumtemperatur unter vollständiger
Cycloeliminierung zum Edukt zurück. 11 ist nach 9,10-Difluor- und 9,10-Dimethylanthracen erst das dritte bekannte Beispiel eines photoschaltbaren symmetrisch 9,10-
funktionalisierten Anthracens.
Während der Arbeiten zur Darstellung gerichteter dreizähniger Grundgerüste auf Triptycen-Basis galt es, die Einflüsse der 1,8-Dichloranthracen-Substituenten in 9- und 10-Position auf das syn-anti-Verhältnis der durch Reaktion mit einer Chlorarin-Komponente entstehenden Trichlortriptycene zu untersuchen. Quantenmechanische Rechnungen prognostizierten einen erhöhten syn-Anteil, wenn 1,8-Dichloranthracen-Derivate mit SiMe3-, GeMe3- oder SnMe3-Substituenten in 10-Position umgesetzt werden. Tatsächlich konnten 1,8,13-Trichlor-10-(trimethylsilyl)- (syn-29) sowie 1,8,13-Trichlor-10-(trimethylgermyl)triptycen (syn-30) als eindeutige Hauptprodukte der Synthesen erhalten werden, wohingegen sich bei der Umsetzung des 10-SnMe3-funktionalisierten
Substrates durch aromatische Substitution 1,8-Dichlor-10-nitroanthracen (31) bildete.
Bei der UV-Licht-Bestrahlung funktionalisierter Anthracene kann es zur Bildung unterschiedlicher Photodimer-Isomere kommen, die sich hinsichtlich der Ausrichtung der Substituenten unterscheiden. Dieses auch bei 1,8-substituierten Anthracen-Derivaten auftretende Problem war Gegenstand eines weiteren Projektes. Der in dieser Arbeit gewählte Lösungsansatz bestand in der Verbrückung zweier 1,8-funktionalisierter Anthracen-Monomere, sodass das System bei der Dimerisierung zu einer gleichsinnigen Ausrichtung der Substituenten gezwungen wird.
Die Linkereinheit muss dabei mehrere Eigenschaften aufweisen. Sie darf im Hinblick auf die potentielle weitere Funktionalisierung mit Lewis-Säuren keine Donor-Atome enthalten. Sie sollte ferner von ausreichender Länge und Flexibilität sein, sodass es zu einer intramolekularen Dimerisierung kommen kann, wobei eine gewisse Vororientierung der photochromen Anthraceneinheiten
wünschenswert wäre. Aufgebaut wurde eine Vielzahl solcher verbrückten Systeme durch unterschiedliche (Kreuz-) Kupplungsreaktionen sowie durch Olefin- und/oder Salzmetathese-Reaktionen.
Neben der Darstellung mehrzähniger und potentiell photoschaltbarer organischer Gerüste war
auch deren Funktionalisierung mit Lewis-sauren (Metall-) Atomen Gegenstand dieser Arbeit. Es wurden unter anderem 1,8-Dialkinylanthracen-Derivate in verschiedenen (Hydro-) Metallierungsreaktionen eingesetzt und auf diese Weise eine Vielzahl neuer zwei- und vierzähniger Lewis-Säuren generiert. Einige dieser gerichteten Verbindungen wurden mit Diethylether umgesetzt, wobei unterschiedliche
Reaktivitäten zwischen den Lewis-sauren Wirtverbindungen und der Lewis-basischen Gastkomponente beobachtet werden konnten. Bei der zweifach GaCl2-funktionalisierten Spezies 65 kommt es zu einer einfachen Anlagerung bzw. Adduktbildung, während bei der zweifach SiCl3-substituierten Verbindung 58 offensichtlich eine Etherspaltungsreaktion stattfindet, die zur Bildung von 63 führt.
Schließlich gelang es in einem weiteren Teilprojekt der Arbeit, die Wirt-Gast-Chemie starrer, zweizähniger Lewis-Säuren erstmals eingehend zu untersuchen. Im Gegensatz zu Lewis-aciden Rezeptorsystemen mit flexiblem Rückgrat liegt der Vorteil starrer Verbindungen in der potentiell höheren Selektivität bei der Erkennung und Bindung Lewis-basischer Gastmoleküle. Für die entsprechenden Untersuchungen wurde ein System bestehend aus 1,8-Bis[(diethylgallanyl)ethinyl]-
anthracen (71) als Wirt sowie Pyridin und Pyrimidin als Gastkomponenten mit einer bzw. zwei Lewis-basischen Funktionalitäten gewählt. Durch einen neuartigen analytischen Ansatz konnten die Dynamiken bei der Bildung entsprechender Wirt-Gast-Komplexe in Lösung studiert werden. Die Kombination aus NMR-Titration und NMR-Diffusionsexperimenten erlaubt bei der Umsetzung von Wirt- und Gastmolekülen die sich (intermediär) bildenden Komplexe anhand ihrer NMR-chemischen Verschiebung sowie ihrer Diffusionskoeffizienten zu unterscheiden. Durch die gezielte Synthese zahlreicher organischer Referenzverbindungen, deren Strukturen mit denen potentieller Wirt-Gast-Aggregate vergleichbar ist, gelang es, die unterschiedlichen Komplexe zu identifizieren. Bei der Umsetzung der Digalliumverbindung 71 mit Pyridin oder Pyrimidin werden jeweils unterschiedliche Zwischenstufen beobachtet. Während kleine Mengen an Pyridin zur
Ausbildung eines Komplexes bestehend aus einem Wirt-Dimer und einem Gastmolekül führen, entsteht bei Pyrimidin ein Komplex, bei dem der bifunktionale Gast chelatisierend durch den Digalliumrezeptor gebunden wird. Wird die Gastverbindung im Überschuss zugesetzt, kommt es in beiden Fällen zu einer Absättigung beider Lewis-aciden Galliumatome durch jeweils ein koordinierend angelagertes Gastmolekül. Mit der Anwendung dieser Methodik – dem Vergleich der NMR-Diffusometrie-Daten aus Wirt-Gast-Experimenten mit denen gezielt synthetisierter Referenzverbindungen – konnten erstmalig detaillierte Einblicke in den Bildungsmechanismus und die Dynamik der Wirt-Gast-Komplex-Bildung in Lösung erhalten werden. Die Bildung der entsprechenden (intermediären) Aggregate ließ sich direkt NMR-spektroskopisch verfolgen. Eine Übertragung dieses Ansatzes auf andere Wirt-Gast-Systeme bietet sich an und wird zur Aufklärung ähnlicher Problemstellungen beitragen können.