Obwohl Inklusion seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention vor mehr als zehn Jahren im gesamten Schulsystem umgesetzt werden sollte und somit keine Neuheit darstellt, fühlen sich Lehrkräfte immer noch unzureichend auf inklusiven Unterricht vorbereitet. Gründe hierfür sind einerseits eine mangelhafte Professionalisierung und andererseits eine bisher nicht ausreichend entwickelte inklusive Fachdidaktik. Diese Probleme führen dazu, dass Lehrkräfte in für sie unsicheren Situationen agieren müssen. In diesen greifen sie auf berufsbezogene Überzeugungen (Beliefs) zurück, die ihnen Orientierung und Sicherheit bieten und so das professionelle Handeln leiten. Die Analyse der Beliefs kann Aufschluss über Professionalisierungsbedarfe und Expert\*innenwissen geben.
Aus inklusionspädagogischer Sicht ist es bedeutsam, im Unterricht an Begabungen und Stärken aller Schüler\*innen anzuknüpfen. Trotzdem verengen viele empirische Studien Inklusion auf das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Förderbedarf. Ausgehend von einem weiten Inklusionsverständnis verortet sich diese Arbeit in einem weiten, pädagogischen Begabungsbegriff, welcher von den Begabungen aller Schüler\*innen ausgeht. Daran anknüpfend bezieht sich inklusive Begabungsförderung auf die individuelle Förderung aller Schüler\*innen. Dazu gehört, Stärken und Schwächen der Einzelnen zu erkennen und darauf aufbauend Fördermöglichkeiten abzuleiten. Gerade in der Biologie besteht ein Bedarf an Studien, die zur Weiterentwicklung einer inklusiven Biologiedidaktik beitragen.
Ausgehend von diesen Forschungsdesideraten wurden Beliefs von Lehrkräften zu inklusiver Begabungsförderung im Biologieunterricht untersucht, um 1) Professionalisierungsbedarfe im Kontext inklusiver Bildung abzuleiten und 2) Impulse für eine inklusive, begabungssensible Biologiedidaktik herauszuarbeiten. Das Forschungsdesign ist aufgrund des bisher wenig erschlossenen Feldes qualitativ-explorativ. Es wurden episodische, leitfadengestützte Interviews mit Biologielehrkräften (N = 17) geführt und im Rahmen der Grounded Theory Methodologie fallbezogen und fallübergreifend ausgewertet. Dabei wurden Gymnasial- und Gesamtschullehrkräfte mit unterschiedlichen Inklusionserfahrungen verglichen.
Auf Professionalisierungsebene zeigen die Ergebnisse, dass sich Gesamtschullehrkräfte und nicht-inklusiv arbeitende Gymnasiallehrkräfte in ihren Grundhaltungen unterscheiden: Erstere nehmen ihre Lerngruppe ressourcenorientiert wahr, betonen Vorteile heterogener Klassen und gehen von der Gleichwertigkeit aller Schüler\*innen aus, wohingegen letztere leistungsschwache Schüler\*innen defizitorientiert betrachten, homogene Lerngruppen bevorzugen und zum Teil elitäre Einstellungen vertreten. Diese Grundhaltung der nicht-inklusiv arbeitenden Gymnasiallehrkräfte steht inklusiver Begabungsförderung entgegen. Vielen Lehrkräften fehlt darüber hinaus Wissen zu inklusiver Begabungsförderung und Differenzierung. Die Ergebnisse zeigen jedoch auch, dass die Beliefs der Lehrkräfte von den (Inklusion häufig behindernden) schulischen Rahmenbedingungen beeinflusst werden. Professionalisierungsbedarfe müssen somit vor diesem Hintergrund reflektiert werden.
Auf biologiedidaktischer Ebene konnte herausgearbeitet werden, dass das Fach aus Sicht der Lehrkräfte besonders geeignet ist, inklusive Begabungsförderung umzusetzen. Dies liegt erstens daran, dass die Biologie aufgrund des Lebensweltbezugs und der Breite der Lerngegenstände für alle Schüler\*innen interessant ist (v. a. in der Sek I). Zweitens ermöglicht das Fach durch seine Komplexität tiefergehendes, kumulatives Lernen (v. a. in der Sek II). Auf Grundlage der Beliefs der Lehrkräfte zu inklusiver Begabungsförderung konnten drei Säulen für eine inklusive, begabungssensible Biologiedidaktik modelliert werden: 1) Förderung der Stärken aller Schüler\*innen, indem vielfältige Zugangsweisen (z. B. praktisch, theoretisch, ästhetisch) zu einem gemeinsamen Lerngegenstand gestaltet werden, 2) Entfaltung biologisch-naturwissenschaftlicher Begabungen durch interessengeleitetes Lernen, 3) Förderung besonderer Begabungen im biologisch-naturwissenschaftlichen Bereich durch kumulatives, vertiefendes Lernen.
Die Ergebnisse legen nahe, dass (angehende) Lehrkräfte die Möglichkeit bekommen müssen, ihre Beliefs zu reflektieren und ggf. eine alternative Praxis einzuüben, um sich für inklusiven Unterricht zu professionalisieren. Darüber hinaus sollte Wissen zu Begabungsförderung und Differenzierung in Aus- und Weiterbildung anwendungsorientiert vermittelt werden. Genauso dringlich ist, inklusive Rahmenbedingungen im Schulsystem zu schaffen. Das erarbeitete Modell kann genutzt werden, um Maßnahmen inklusiver Begabungsförderung im Biologieunterricht mithilfe der drei Säulen zu planen und reflektieren. Die Arbeit leistet somit einen Beitrag zur Professionalisierungsforschung im Kontext inklusiver Bildung und zur Weiterentwicklung einer inklusiven, begabungssensiblen Biologiedidaktik.