Für Kant ist das Gewissen eine „Gemütsanlage“ (EXII: 399,11), die wir alle „haben“
(EXII: 399,7), sofern wir überhaupt Menschen sind.¹ Dies und die Tatsache, dass
Kant in seinen ethischen Schriften immer wieder die Nähe seiner Überlegungen
zur „gemeinen sittlichen Vernunfterkenntniß“ (GMS: 392,23) betont – und diese
alltägliche Moralität ist natürlich mit dem Phänomen des Gewissens vertraut –,
macht es um so überraschender, in Kants Grundlegung und in der Kritik der
praktischen Vernunft so gut wie nichts über das Gewissen zu lesen. Erst in der
Religionsschrift und dann in der Tugendlehre entwirft Kant so etwas wie eine
Theorie oder Philosophie dieses „wundersamen Vermögens“ (KpV: 98). Obwohl
diese Philosophie des Gewissens selbstverständlich Elemente enthält, wie sie
auch in der Tradition zu finden sind, bildet sie doch eine ganz eigene, komplexe
und weitreichende Theorie, die eine genauere philosophische Untersuchung
lohnend macht.