In der Forschungsliteratur werden Hochbegabte als Underachiever klassifiziert, wenn sie durch Leistungsprobleme erheblicher Art auffallen. Über die Begründungszusammenhänge weiß man bisher nicht viel. Qualitativ-empirische Einzelfallstudien über hochbegabte Underachiever, die auf einer längeren Erhebungsphase beruhen, lassen sich im deutschsprachigen und US-amerikanischen Raum nicht finden. Im theoretischen Teil der vorliegenden Studie werden Grundlagen zu Konzepten der Intelligenz, der Begabung, der Hochbegabung und des Underachievements sowie mehrdimensionale Hochbegabungsmodelle dargestellt. Verschiedene Perspektiven zum Problemfeld des Underachievements Hochbegabter erweitern die theoretische Basis: Diskrepanz zwischen Hochbegabung und Leistung, besondere Persönlichkeitsfaktoren und Typenbildungen, Lern-, Leistungs- und Schulschwierigkeiten, Aspekte der Sonderpädagogik, Erziehung, Leistungsverweigerung und Verhaltensauffälligkeiten.
In der Untersuchung stehen ein Kind und ein Jugendlicher im Mittelpunkt, die über eineinhalb bzw. zwei Jahre hinweg begleitet wurden. Der methodische Rahmen ergibt sich durch den qualitativ-empirischen Forschungsansatz und Gütekriterien qualitativer Forschung. Mit Hilfe des problemexplorierenden Gesprächs als einer Form qualitativer Interviews sowie der teilnehmenden Beobachtung wurden zu den Fällen Daten erhoben. Die Datenauswertung erfolgte mit einer modifizierten Form der Inhaltsanalyse nach Mayring und mündete in falltypischen Kategoriensystemen, aus denen inhaltsanalytisch basierte Porträts mit thematisch dichten Beschreibungen aus der Sicht der beiden Jungen entstanden.
Als zentrales Ergebnis ist festzuhalten, dass die hochbegabten Jungen Kai und Marc trotz desselben Phänomens des Underachievements sehr unterschiedlich mit ihren schulischen Schwierigkeiten umgehen und diese auch unterschiedlich deuten, dass es aber Gemeinsamkeiten in schulfachlichen Lern- und Leistungsproblemen gibt und es bei ihnen nicht nur um Leistungsprobleme geht, sondern auch um schwerwiegende Lern-, Leistungs- und Schulschwierigkeiten: Bei Kai bewirkt die Hochbegabung Selbstzweifel, weil er davon ausgeht, dass Hochbegabte auch Hochleister sein müssen. Als Ursache für seine Schwierigkeiten deutet er das Überspringen der dritten Klasse. Die Hochbegabung erzeugt auf zweifache Weise ein Anderssein – er erlebt sich im Kreis der Hochbegabten als unnormal, weil er als Hochbegabter nicht die erwarteten Leistungen bringt. Im Kreise seiner Mitschüler erlebt er sich ebenfalls als unnormal, weil er in der Schule oft scheitert. Begleitet werden die schulischen Schwierigkeiten von einer hohen emotionalen Instabilität. Sein schulischen Erfahrungen sind mit Leistungsdruck, Leiderfahrung, Selbstzweifel, Perfektionismusstreben, Hilf- und Machtlosigkeit, Resignation, Angst vor Selbstwerterniedrigung und Problemabwehr belastet. Die Schule wächst zu einem unüberschaubaren Problem heran. Im Gegensatz zu Kai erlebt Marc seine Hochbegabung eher positiv. Als zentrales Attribut Hochbegabter konstatiert er eine besondere Denkfähigkeit. Für sich zieht er die Schlussfolgerung, durch die Hochbegabung selbstbewusster und alltagstauglicher zu sein als andere Menschen. Dadurch nimmt er auch ein Anderssein wahr, aber nicht im negativen Sinne. Ebenso wie Kai erlebt er die schulischen Rahmenbedingungen als Behinderung seiner schulischen aber auch persönlichen Entwicklung. Ein systematisches Lern- und Arbeitsverhalten habe er nicht aufgebaut und durch die dauerende Unterforderung sei er irgendwann überfordert gewesen. Schulische Schwierigkeiten ergeben sich in den Fremdsprachen, der Rechtschreibung und ab der Oberstufe bei sehr abstrakten Inhalten in Mathematik und Naturwissenschaften. Als Hauptprobleme kristallisieren sich seine kritische Grundhaltung und sein komplexes Denken heraus. Sie erzeugen während des Unterrichts Schwierigkeiten, wenn er sich mit Inhalten intensiver und kritischer auseinandersetzen möchte. Marc bezeichnet sich trotz seiner misslichen Lage als Optimist und beschreibt sich als „Minimalist“ und „Grenzgänger“, der in dem schulischen System so lange mit seinen Haltungen durchkam, bis ihm Grenzen aufgezeigt wurden.
In beiden Fällen rückt die Schule als System in den Mittelpunkt. Daraus ergibt sich zum einen die Forderung nach einer schulpädagogischen Perspektive auf das Forschungsfeld zu hochbegabten Underachievern und zum anderen nach qualitativ-empirischen Einzelfallstudien, da durch sie Denk- und Verhaltensmuster der Betroffenen und individuelle Begründungen für das Aufkommen schulischer Schwierigkeiten dokumentiert und mit Erkenntnissen aus der Hochbegabtenforschung verglichen werden können. Es geht nämlich nicht nur um die offensichtlichen Leistungsschwierigkeiten sondern vor allem um das schulsystemische Bedingungsfeld. Es lässt sich das Fazit ziehen, dass die schulpädagogische Forschung über hochbegabte Underachiever erst am Anfang steht.