Seit Kinder Computer nutzen wird darüber kontrovers diskutiert. In der
gesellschaftlichen Debatte wird oft über die Wirkung von Spielkonsolen,
Computern und des Internet gestritten. Dabei folgen wissenschaftliche
Untersuchungen zur Mediennutzung von Kindern häufig ausschließlich
quantitativen Paradigmen. Ein differenzierender Blick auf die Nutzungs-
und Aneignungspraxis digitaler Medien durch 9- bis 10-jährige Kinder in
Deutschland fehlt jedoch. Diese Lücke mit Hilfe qualitativ erhobener und
ausgewerteter Fallstudien zu schließen, ist Aufgabe der vorliegenden
Untersuchung. Folgende Punkte bilden in diesen ausführlichen Fallstudien
die Leitfragen: Wie, wo und wann nutzen 9- bis 10-jährige Kinder den
Computer und andere digitale Medien in ihrem Alltag? Welche Rolle spielen
die verschiedenen Medienwelten Familie, Peergroup und Schule sowie weitere
Bezugspersonen der Kinder bei der Aneignung digitaler Medien? Wie steht
die Nutzung digitaler Medien im Verhältnis zu den „klassischen“,
„analogen“ Medien? Wie eignen sich Kinder digitale Medien an? Wie
unterscheidet sich diese Aneignung im Vergleich zu anderen Medien? Die
Arbeit verfolgt einen interdisziplinären Forschungsansatz und widmet sich
bei den genannten Fragestellungen Themen, die sowohl für die Informatik
als auch für Pädagogik und Medienforschung von hoher Relevanz sind. Der
Schwerpunkt liegt dabei auf der Nutzung und Aneignung und nicht auf der
Wirkung von Medien.
Für die Untersuchung wird auf Methoden der qualitativen Sozialforschung
zurückgegriffen. Als Werkzeuge kommen verschiedene Interviewformen und die
teilnehmende Beobachtung zum Einsatz. Hervorzuheben ist hier das
sogenannte „interaktive Interview “, welches aufgrund der Anforderungen
des Forschungsfeldes im Rahmen dieser Arbeit entwickelt wurde. Als eine
Art Mischform bereits bestehender Methoden ermöglicht das interaktive
Interview einen besseren Zugang zum Feld und die Erhebung valider Daten.
Bei der Auswertung des empirischen Materials werden dem Ansatz der
Grounded Theory folgend mehrere Schlüsselkategorien, Dimensionen und
Eigenschaften herausgearbeitet, die eine systematische Beschreibung
einzelner Phänomene in den jeweiligen Fallstudien ermöglichen. In den
Fallstudien werden insgesamt zehn Kinder untersucht, von denen drei für
die Entwicklung der Schlüsselkategorien ausgewählt und kontrastierend
ausführlicher gegenübergestellt werden. Die Schlüsselkategorien bilden
dabei die Mediennutzung des Kindes, die Mediennutzung der Familie, die
Medienaneignung des Kindes und die Medienerziehung des Kindes.
Als Fazit ergibt sich ein deutlich differenziertes Bild der Bandbreite von
Nutzungs- und Aneignungspraktiken bei Kindern. Die Mediennutzung der
Kinder zeichnet sich durch eine große Vielfalt aus und ist einem
dauerhaften Wandel unterworfen. Bei der alltäglichen Nutzung ist die
jeweilige Medienwelt von entscheidender Bedeutung, in welcher sich das
Kind gerade befindet. In diesen Medienwelten gelten sehr unterschiedliche
Regeln, deren Bewusstwerden einen wichtigen Anteil an der Sozialisation
der Kinder hat. Besonders hervorzuheben ist hier die Vorbildwirkung der
elterlichen Nutzung der verschiedenen Medien. Neben den bestehenden drei
Medienwelten Familie, Peergroup und Schule kann das Internet als eine
neue, vierte Medienwelt definiert werden: sie hat Einfluss auf alle
anderen Medienwelten und existiert in den meisten Fällen nicht losgelöst
von diesen. Dabei stellen sich die bestehenden Medienwelten der
zunehmenden alltäglichen Bedeutung des Internets und den damit verbundenen
Herausforderungen sehr unterschiedlich. Übergreifend lässt sich dagegen in
allen Medienwelten ein neuer Typ von Habitus bei der Nutzung digitaler
Medien beobachten. Dieser „digitale Habitus“ ist dabei nicht als getrennt
vom sonstigen Habitus des Kindes zu betrachten, vielmehr wird er neuer
Bestandteil desselben: Die anfangs spielerische Nutzung und Geheimhaltung
von Passwörtern zum Schutz der eigenen Privatsphäre sind ein typisches
Merkmal des digitalen Habitus. Weitere Merkmale wie beispielsweise
Strategien zum Korrigieren von Fehlern (durch Neustart bzw. „Neumachen“)
können dabei auch als originär betrachtet werden und bilden einen
wichtigen Anknüpfungspunkt für weitere Untersuchungen. Zu den wichtigsten
Schlussfolgerungen gehört für die Informatik, digitale Medien für und mit
Kindern zu gestalten, die eine gemeinsame Nutzungskultur von Kindern und
Eltern fördern. In der Pädagogik besteht eine Herausforderung darin, sich
zukünftig in der Lehrerausbildung wie auch den Schulen selbst verstärkt
mit Spielen und sozialen Medien auseinanderzusetzen. Forschungsmethodisch
spielen bei der Untersuchung sozialer Medien zunehmend auch ethische
Probleme eine Rolle: Die Vermischung von Massen- und
Individualkommunikation in den sozialen Medien konfrontiert Forscher bei
der Erhebung, Auswertung und Veröffentlichung von empirischen Daten mit
neuen und noch ungelösten Fragen.