Jeder Organismus ist das Resultat vielfältiger Interaktionen zwischen der Umwelt und den Genen, welche gemeinsam zur Ausprägung des individuellen Phänotyps führen. Einflüsse während der frühen Ontogenese nehmen einen besonderen Stellenwert ein und können langfristige Konsequenzen mit sich bringen. Es ist jedoch wichtig, den gesamten Entwicklungszeitraum, von der Empfängnis bis zur Erreichung der sexuellen Reife, zu berücksichtigen, um Auswirkungen von Strategien zum Umgang mit Stress verstehen zu können. Jungvögel sind sehr empfänglich für suboptimale Umweltbedingungen, da sie von ihren Eltern kaum gegen äußere Umstände abgepuffert werden können. Fluktuationen abiotischer und biotischer Umweltfaktoren kommen unter natürlichen Bedingungen häufig, meist unvorhersehbar und für ungewisse Dauer vor. Eine Vielzahl von experimentellen Studien an Singvögeln hat das Ausmaß negativer Bedingungen (Brutgrößen-, Nahrungs- oder hormonelle Manipulation) untersucht, doch es ist bislang unklar, inwiefern kürzere, biologisch relevantere Restriktionsphasen während der unterschiedlichen Entwicklungsstadien Nestling und Flüggling langfristige Konsequenzen in Bezug auf Fitness und Reproduktion mit sich bringen. Nestlinge und Flügglinge sehen sich mit einer Vielzahl von physiologischen, sozialen und verhaltensökologischen Herausforderungen konfrontiert, welche eine unterschiedliche Gewichtung innerhalb der Phasen erfahren.
Ein weiterer wichtiger Entwicklungsabschnitt von Singvögeln ist die Phase, in der sich sekundäre Geschlechtsmerkmale ausbilden und der artspezifische Gesang erlernt wird. Während dieser Phase der frühen Unabhängigkeit herrscht ein hoher Selektionsdruck, der unter natürlichen Bedingungen in niedrigen Überlebensraten resultiert. Merkmale, die sich während dieser Zeit ausprägen, lassen Rückschlüsse auf das Potential und die Fähigkeiten der Ressourcenverteidigung von Individuen zu.
In dieser Arbeit wurden die durch Nahrungsrestriktionen hervorgerufenen Effekte am Modell des Zebrafinken analysiert. In dieser Studie wurden mittels eines experimentellen Ansatzes Auswirkungen von Nestlings- und Flügglings-Stress, unter Berücksichtigung biometrischer, physiologischer und verhaltensrelevanter Aspekte, direkt verglichen. Das Ausmaß epigenetischer Einflüsse auf die nachfolgende Generation und auch die diesbezüglichen geschlechterspezifischen Unterschiede wurden untersucht. Des weiteren wurden Einflüsse während des zweiten Monats, Pubertät, auf ein kulturell tradiertes, sexuell selektiertes Merkmal, den männlichen Gesang, untersucht. Ein besonderes Augenmerk wurde hierbei auf die Analyse von weiblichen Gesangspräferenzen gelegt.
Nahrungsrestriktionen während der Nestling-Phase führten zu ausgeprägtem Kompensationswachstum, welches sich bei Flügglingen nur in Bezug auf das Körpergewicht zeigte. Es konnte nachgewiesen werden, dass Nahrungsrestriktionen Auswirkungen auf den basalen Corticosteronspiegel mit sich ziehen. Dieser wichtige Aspekt der physiologischen Aktivierung der Hypothalamus-Hypophysen-Achse als Antwort auf Nahrungsvariationen war bislang unbekannt bei Zebrafinken und begründet die Verwendung des Termes Nahrungsstress. Es konnten keine Langzeitauswirkungen auf die Attraktivität oder Überlebensrate festgestellt werden, wobei die Ursachen hierfür in dem arteigenen Brutverhalten begründet liegen könnten. Unter natürlichen Bedingungen sind kurze Perioden von Nahrungsbeschränkungen vorherrschend und der damit verbundene Umgang könnte die Evolution individueller Optimierungsstrategien begünstigt haben. Dennoch war die Kompensation nicht allumfassend und geschlechterspezifische Auswirkungen spiegelten sich auch in der Qualität und im Geschlechterverhältnis der nachfolgenden Generation wider. Männliches Gesangslernen und weibliche Gesangspräferenzen wurden nicht durch Nahrungsrestriktionen während der Pubertät beeinflusst. Jedoch konnte gezeigt werden, dass soziale Einflüsse einen starken Einfluss auf das männliche Gesangslernen und weibliche Gesangspräferenzen nehmen und in sogenanntes peer-learning (Lernen von Mitschülern) resultieren. Entgegen der allgemeinen Hypothese, dass Gesangskomplexität als Qualitätsindikator dient und Weibchen längerem Gesang den Vorzug geben, konnte keinerlei Präferenz für längeren Gesang ermittelt werden.
Zusammenfassend konnte gezeigt werden, dass es maßgebliche Unterschiede in der individuellen Ausprägung von Konsequenzen auf Nahrungsrestriktionen gibt und dass diese Unterschiede vom Zeitpunkt und der Dauer des Stressors abhängen sowie von der Modalität des untersuchten Merkmales. Diese Ergebnisse erweitern unser Verständnis in Bezug auf die Ursprünge und evolutionäre Signifikanz individueller Unterschiede. Selektion agiert auf der Ebene des Phänotyps und die Resultate dieser Studie unterstreichen die Relevanz der frühkindlichen Entwicklungen auf die phänotypische Plastizität.