Nur wenig ist bisher über die Auswirkungen historischer Veränderungen der Lebensverhältnisse auf die Psyche von Kindern bekannt, da Zeitwandelstudien, die darüber Aufschluss geben können, kaum vorhanden sind. Aufgrund dieses Forschungsdefizits realisiert die vorliegende Studie einen orts- und methodenidentischen Zeitvergleich, der mögliche Veränderungen der Peerbeziehungen von Grundschülern als Ausdruck eines psychischen Wandels feststellen und die Art der Änderung beschreiben könnte. Peerbeziehungen von Kindern eignen sich besonders als Untersuchungsgegenstand einer Zeitwandelstudie; zum einen aufgrund der Relevanz, die die Peerbeziehungen für die Kinder selbst sowohl in Bezug auf ihr alltägliches Leben als auch im Hinblick auf ihre soziale und kognitive Entwicklung haben (z.B. Bagwell, Schmidt, Newcomb, & Bukowski, 2001; Krappmann & Oswald, 1995; McDougall, Hymel, Vaillancourt, & Mercer, 2001), zum anderen, da die Bedeutsamkeit der genannten Aspekte bereits auf potenziell gravierende Konsequenzen einer Veränderung hindeutet. Gerade in jüngster Zeit wird den Peerbeziehungen und ihrer möglichen Veränderung eine zunehmende Bedeutung zugeschrieben (Asher & Coie, 1990; Cairns, Xie, & Leung, 1998), obwohl Belege für Behauptungen, dass veränderte Lebensverhältnisse auch die Beziehungen der Kinder untereinander verändert hätten (z.B. Herzberg, 1992), ausstehen.
Da Peerbeziehungen im Grundschulalter vor allem im Kontext der Schulklasse entstehen und von Bedeutung sind (Krappmann & Oswald, 1995; Oswald & Krappmann, 1991), wird der Zeitvergleich auf der empirischen Grundlage der an 7 Grundschulen im Raum Aachen im Jahr 1971 und 1996 an insgesamt 754 Grundschülern des 3. und 4. Schuljahres entsprechend der Zeitwandelmethode (Baltes, 1967; Schaie, 1965) mittels Fragebogen unter Einsatz des Wahlverfahrens (Dollase, 1976) erhobenen emotional- und perzeptiv-soziometrischen Daten, die sich auf die klassische Sympathie-Antipathiedimension beziehen, sowie mittels einiger weniger nichtsoziometrischer Daten, die neben Auskünften zu Sozialbeziehungen auch Aspekte der Schulbefindlichkeit beinhalten, konstruiert und durchgeführt.
Zunächst wird in einem Theorieteil an der verbreiteten Thematisierung veränderter Kinder in der vorhandenen Literatur zum bisherigen Forschungsstand deutliche Kritik an dererlei wissenschaftlich unhaltbaren Termini und methodischen Zugängen dargelegt, um von hier aus die Notwendigkeit einer geeigneten Operationalisierung, Analyse und Beschreibung von Wandelphänomenen im pädagogisch-psychologischen Bereich zu entwickeln. Die Thematisierung des Zeitwandels als Forschungsgegenstand und -problem erklärt darauf folgend detailliert die den Zeitwandelstudien zugrunde liegende Untersuchungslogik und die mit ihr einhergehenden Schwierigkeiten, aber auch die Möglichkeiten einer empirischen Konstatierung der Veränderungen im Zeitvergleich, bevor auf die in diesem Zusammenhang besondere Relevanz der Peerbeziehungen von Grundschülern ausführlicher eingegangen wird, die das ganz spezifische Untersuchungsinteresse begründet. Im Anschluss daran werden die vorhandenen Befunde der wenigen empirischen Untersuchungen zum psychischen Wandel von Kindern zusammengestellt.
Trotz des vornehmlich explorativen Charakters der vorliegenden Studie werden im Anschluss zwei übergeordnete Hypothesen als Leitfaden für die strukturierte Analyse der Daten formuliert. Die erste Hypothese besagt, dass sich die Grundschülerinnen und Grundschüler im Raum Aachen hinsichtlich ihrer Sozialbeziehungen und deren Perzeption zwischen 1971 und 1996 verändert haben; die Vermutung einer solchen Veränderung soll dabei auch die Hypothese des Wandels der Zuneigung und der Abneigung zwischen den Geschlechtsgruppen inkludieren. Die zweite Hypothese geht davon aus, dass sich in diesem Zeitraum und in dieser Region auch die Schulbefindlichkeit der Kinder verändert hat. In diesem Zusammenhang werden ebenfalls Geschlechtsunterschiede für möglich gehalten und es wird daher auch eine eventuell unterschiedliche Veränderung der Schulbefindlichkeit von Jungen und Mädchen im Zeitvergleich überprüft.
Da der vorliegende Untersuchungsbereich in der bisherigen empirischen Forschung vernachlässigt wurde und auch nur wenige Ansätze zur Verarbeitung und Analyse von aufeinander bezogenen multikriterialen soziometrischen Daten existieren, wird in dieser Studie ein Schwerpunkt auf die Realisierung von Verfahren der Datenanalyse gesetzt, die sowohl der Eigenart der vorliegenden Daten in Bezug auf ihre Multirelationalität gerecht wird als auch die Untersuchung dieser komplexen Informationen im Zeitvergleich ermöglicht. Durch die hier konzipierte relationale und synchrone multirelationale Verarbeitung und Analyse, die weitgehend auf den theoretischen Grundlagen der relational analysis (Tagiuri, 1952) basiert und die bis hin zur multikriterialen Konfigurationsauswertung (Dollase, 1974) mittels des relationalen Konfigurationsfrequenzdiagramms führt, wird ein Zeitvergleich ermöglicht, der auch eine fundamentale qualitative Analyse der Sozialbeziehungen zwischen den Erhebungszeitpunkten gestattet und zusätzlich noch nach intra- und intergeschlechtlichen Beziehungen zu differenzieren vermag. Im Gegensatz zur aufwendigen soziometrischen Analyse gestaltet sich die Untersuchung der nichtsoziometrischen Items mit Aussagen zu den Sozialbeziehungen und zur Schulbefindlichkeit mit konventionellen Verfahren unproblematisch. Zusätzlich wird berücksichtigt, dass die Studie Mehrebenendaten analysiert. Neben der Individualebene als zentraler Untersuchungsebene wird daher mittels der Untersuchung von Klassenpaaren eines randomisierten und parallelisierten Subsamples im Zeitvergleich auch die Aggregationsebene Schulklasse untersucht. Von zentralem Interesse ist dabei, wie sich die Ergebnisse der Individualanalyse auf der Klassenebene darstellen.
Betrachtet man die wesentlichen Befunde der vorliegenden Studie zusammenfassend, ist ein deutlicher Wandel der Grundschüler in Bezug auf ihre Sozialbeziehungen und deren Perzeption zwischen den Erhebungszeitpunkten festzustellen. Die wichtigsten Befunde der soziometrischen Analyse im Zeitvergleich waren dabei eine Zunahme der Positivität intrageschlechtlicher Beziehungen und eine der Negativität intergeschlechtlicher. Jungen und Mädchen wählten also demnach im Jahr 1996 mehr Kinder des eigenen Geschlechts in ihren Klassen und lehnten gleichzeitig zunehmend die des anderen Geschlechts ab. Diesem Wandel entsprechend zeigte sich auch die Perzeption der Kinder weitgehend verändert. Die Ergebnisse der Relationalen Analyse belegten dann, dass der quantitative Wandel der Expansionen der Grundschüler zugleich mit analogen Veränderungen der Beziehungsqualitäten einherging.
Die Ergebnisse der Analyse der nichtsoziometrischen Items zeigten insgesamt keinen einheitlichen Trend des Wandels der Schulbefindlichkeit, jedoch eine konträre Veränderung der Kinder hinsichtlich ihrer positiven Befindlichkeit innerhalb der Klassen, die bei den Mädchen stieg, während sie bei den Jungen abnahm. Weiterhin änderte sich die Einstellung der Kinder zum Alleinsein, zur Schüleranzahl in der Klasse und zum Umgang mit den Peers. Weniger Kinder zogen es 1996 vor, allein zu sein und weniger Klassenkameraden zu haben, während andererseits auch zunehmend Kinder nicht gerne mit den anderen spielten.
Die Berücksichtigung der vorhandenen Daten als Mehrebenendaten im Rahmen des Klassenpaarvergleichs zeigte, dass insgesamt eine weitreichende Kongruenz der auf der Aggregationsebene Schüler gewonnenen Ergebnisse mit denen der auf Schulklassenebene erhaltenen bestand. Deutlich wurde insgesamt jedoch auch, dass einzelne Klassen in der Ausprägung der Veränderung erheblich variierten. Wie dem Vergleich zu entnehmen war, konnte dabei eine Streuung auch bei Klassen, die aus einer Schule stammten, im Querschnitts- und Zeitvergleich existieren.
Die vorliegenden empirischen Befunde, die eine zunehmende Segregation der Geschlechter im Zeitvergleich charakterisieren, sind im Kontext der angenommenen multifaktoriellen Anlage von Wandelfaktoren in einer Vielzahl von Einflüssen zu vermuten, denn wenn auch die Isolierung von Veränderungsdeterminanten mit dem durchgeführten Untersuchungsdesign nicht möglich war, so lassen verschiedene Untersuchungsbefunde die Erklärung der vorliegenden Veränderungen speziell im Makro- und Mikrokontext vermuten. Über die allgemeine Annahme eines Einflusses dieser Kontexte hinaus stellt sich aber zumindest die Frage, welche spezifischen Bedingungen und Wirkgrößen als besonders einflussreiche Wandelfaktoren zur Erklärung der vorliegenden Befunde in Betracht kommen, auch wenn deren relativer Erklärungswert derzeitig nicht bestimmbar ist.
Eine Erklärung wird in einer zunehmenden Gleichaltrigenorientierung und der damit einhergehenden erhöhten Salienz von Peerbeziehungen vermutet, die sich auch in der Veränderung der nichtsoziometrischen Items ausdrückt, da diese zu dem Schluss führen können, dass Kinder 1996 aufgeschlossener und kontaktbedürftiger, aber auch anspruchsvoller im Umgang mit anderen Gleichaltrigen sind. Auch eine sich andeutende verstärkte Cliquenorientierung der Kinder könnte in Anlehnung an die Balancetheorie (Heider, 1946) möglicherweise die vorliegende Zunahme von Wahlen und Ablehnungen erklären. Umfassender und präziser zeigt sich aber die favorisierte Erklärung veränderter Geschlechtsrollennormen, die mit Hilfe weiterer empirischer Befunde und der social role theory (Eagly, 1987) ein plausibles Erklärungsmodell für die vorliegenden Ergebnisse nahe legt.
Die vorgeschlagenen Erklärungen widersprechen einander dabei nicht, sondern dürften sich im Rahmen eines multifaktoriellen Modells zur Erklärung des Zeitwandels ergänzen und überschneiden. Trotzdem unterscheidet sich die Erklärung der gefundenen Veränderung durch einen Wandel von Geschlechtsrollennormen insofern von den anderen maßgeblich, als dass sie nicht nur eine Ursache für eine vorhandene Segregation im Jahr 1971 und für eine Zunahme derselben im Zeitvergleich offeriert, sondern darüber hinaus auch die zunehmende Gleichaltrigen- und Cliquenorientierung erklären könnte.
Der Bedarf weiterführender Forschung in Bezug auf die vorliegenden Untersuchungsergebnisse und deren Erklärungen muss betont werden, denn um das Risiko eines Methoden- oder Stichprobenartefaktes auszuschließen, benötigt der Befund der vorliegenden Studie weitere empirische Evidenz, insbesondere da sich die Untersuchung nur auf zwei Zeitpunkte in den Jahren 1971 und 1996 stützt. Auch bedarf der favorisierte Erklärungsansatz weiterer Belege, um derzeitig gerechtfertigter Skepsis entgegentreten zu können und seine Berechtigung im wissenschaftlichen Diskurs zu belegen. Möglichkeiten, wie diese zu erlangen wären, werden aufgezeigt.
Bezüglich der Implikationen der vorliegenden Studie für die professionelle Praxis in der Grundschule wird festgehalten, dass das vorgeschlagene Erklärungsmodell eine wie in dieser Studie gefundene vergleichbare oder gar verschärfte Segregation der Geschlechter in vielen Schulklassen auch aktuell vermuten lässt. Aufgrund der Hinweise auf den bedeutsamen Einfluss des Mikrokontextes und mit ihm auch den der Lehrer in einer Klasse erscheint es demnach ratsam, heutige Grundschullehrer zu größerer Sensibilität in Bezug auf das Miteinander von Jungen und Mädchen aufzufordern und eine Vermittlung von Handlungsalternativen für Lehrer anzustreben, die zu einer Verbesserung des Verhältnisses von Jungen und Mädchen führen. Vorschläge, worin diese bestehen können, lassen sich aus sozialpsychologischen Theorien zum Umgang mit Gruppenkonflikten ableiten und bezüglich der vorliegenden Segregation von Jungen und Mädchen formulieren. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie unterstreichen den Handlungsbedarf für die Praxis, zumal festgestellt werden muss, dass sich das Phänomen der Segregation der Geschlechter in Grundschulklassen durchgängig durch die Forschungsliteratur zieht, jedoch in der Schulpraxis weitgehend vernachlässigt wird. Wie nötig solche Anstrengungen gerade in der Schule sind, verdeutlicht dabei auch die Annahme, dass in den Schulen die traditionellen Muster der Geschlechtstrennung verstärkt würden (Rubin, 1981).
Literatur:
Asher, S. R., & Coie, J. D. (1990). Peer rejection in childhood. New York, NY: Cambridge University Press.
Bagwell, C. L., Schmidt, M. E., Newcomb, A. F., & Bukowski, W. M. (2001). Friendship and peer rejection as predictors of adult adjustment. New Directions for Child and Adolescent Development, 91, 25-49.
Cairns, R., Xie, H., & Leung, M.-C. (1998). The popularity of friendship and the neglect of social networks: Toward a new balance. In W. M. Bukowski & A. H. Cillessen (Hrsg.), Sociometry Then and Now: Building on Six Decades of Measuring Children's Experiences with the Peer Group (S. 25-53). San Francisco, CA: Jossey-Bass/Pfeiffer.
Dollase, R. (1976). Soziometrische Techniken (2. Aufl.). Weinheim, Basel: Beltz.
Eagly, A. H. (1987). Sex differences in social behavior: A social-role interpretation. Hillsdale, NJ: Erlbaum.
Heider, F. (1946). Attitudes and cognitive organizations. Journal of Psychology, 21, 107-112.
Herzberg, I. (1992). Kinderfreundschaften und Spielkontakte. In Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.), Was tun Kinder am Nachmittag? Ergebnisse einer empirischen Studie zur mittleren Kindheit (S. 75-126). München: Verlag Deutsches Jugendinstitut.
Krappmann, L., & Oswald, H. (1995). Alltag der Schulkinder. Beobachtungen und Analysen von Interaktionen und Sozialbeziehungen. Weinheim: Juventa.
McDougall, P., Hymel, S., Vaillancourt, T., & Mercer, L. (2001). The consequences of childhood peer rejection. In M. R. Leary (Hrsg.), Interpersonal rejection (S. 213-247). London: Oxford University Press.
Oswald, H., & Krappmann, L. (1991). Der Beitrag der Gleichaltrigen zur sozialen Entwicklung von Kindern in der Grundschule. In R. Pekrun & H. Fend (Hrsg.), Schule und Persönlichkeitsentwicklung. Ein Resümee der Längsschnittforschung (S. 201-216). Stuttgart: Enke.
Rubin, Z. (1981). Kinderfreundschaften. Stuttgart: Klett-Cotta.