Aufgrund von wirtschaftlichen Erwägungen und zur Erhöhung der Zuverlässigkeit von Antriebssystemen haben drehgeberlose Regelungsverfahren für drehzahlveränderliche Antriebe großen Anklang in Wissenschaft und Industrie gefunden. Die erarbeiteten Methoden ohne Einsatz eines Drehgebers sind vielfältig einsetzbar, setzen allerdings ein starres mechanisches System zur modellbasierten Bestimmung der Maschinendrehzahl voraus. Für schwingungsfähige Mehr-Massen-Systeme im Antriebsstrang sind jedoch bisher keine speziellen sensorlosen Verfahren zur Drehzahlschätzung bekannt, die die besonderen dynamischen Eigenschaften dieser Systeme berücksichtigen.
In der vorliegenden Arbeit wird daher ein neues Verfahren zur drehgeberlosen Identifikation von Zwei-Massen-Systemen vorgestellt, das durch zwei Identifikationsschritte per Frequenzgangbestimmung eine zuverlässige Möglichkeit eröffnet, exaktere Drehzahlschätzung für das schwingungsfähige System zu erhalten. Die betrachtete Methode bedient sich im ersten Schritt einer klassischen Beobachterstruktur zur Drehzahlschätzung, die lediglich Kenntnis über die leicht zu bestimmenden Massenträgheiten des Systems voraussetzt. Stellt sich das reale System durch die tordierenden Eigenschaften der Antriebswelle als Zwei-Massen-System dar, so wird im sensorlos ermittelten Frequenzgang die mechanische Resonanzfrequenz des Antriebsstranges sicher identifiziert. Auf Basis dieser Information kann die eingesetzte Beobachterstruktur zur Drehzahlschätzung um ein mechanisches Modell derart erweitert werden, dass der zweite geberlose Identifikationsschritt zuverlässig den Systemfrequenzgang mit den gesamten
charakteristischen Eigenschaften einschließlich der Anti-Resonanzstelle ermittelt. Somit ist durch die neue Methode eine Möglichkeit gegeben, die Maschinendrehzahl unter Berücksichtigung der besonderen Systemdynamik dieses Mehr-Massen-Systems exakter als mit den bekannten Verfahren ohne Einsatz eines Drehgebers zu bestimmen. Dies bildet zudem die Voraussetzung für die weitere Anwendungsmöglichkeit von speziellen Regelungsverfahren zur Erzielung hochdynamischer Antriebe für schwingungsfähige Mechaniken im drehgeberlosen Betrieb. Hierfür ist zwingend während der Inbetriebnahme des geberlosen Antriebsstranges Kenntnis über das Verhalten und die Parameter des mechanischen Systems zu erlangen, wofür die vorgestellte Methode die notwendigen Informationen durch das Identifikationsverfahren bereitstellen kann.
Neben den theoretisch erarbeiteten Teilen zu dieser Identifikationsmethode von Zwei-Massen-Systemen durch drehgeberlose Frequenzgangbestimmung unterstreichen die experimentellen Untersuchungen in dieser Arbeit die Zuverlässigkeit des neuen Verfahrens. Die sensorlose Identifikationsroutine wird an unterschiedlichen Mechaniken und unter vielfältigen Betriebsbedingungen validiert. Parameterstudien zeigen zudem eine breite Palette an möglichen Einstellungen der Signalverarbeitung und der erweiterten Beobachterstruktur auf, unter denen der mechanische Frequenzgang sicher bestimmt werden kann.
Des Weiteren gestattet das dargestellte Verfahren, Veränderungen am mechanischen System zu erkennen und zu diagnostizieren. So können variierende mechanische Parameter wie z.B. eine veränderliche lastseitige Massenträgheit über einen Vergleich mit der Referenzkurve aus der Inbetriebnahme bestimmt und abgeglichen werden. Eine mögliche Zustandsüberwachung der eingesetzten Lagerungen auf etwaige Lagerschäden ist ebenfalls theoretisch und experimentell Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Ausarbeitung. Bedingt durch den Einfluss auf die Maschinenströme kann das sensorlose Identifikationsverfahren als Diagnosewerkzeug für Fehler am Außenring Anwendung finden, da sich die spezifischen Veränderungen zur Referenzkurve an den charakteristischen Fehlerfrequenzstellen für diese Schadensart sicher detektieren lassen. Zwar kann die mögliche Diagnose von Innenringfehlern an den Lagern durch die Frequenzgangmessung ohne Drehgeber experimentell nicht bestätigt werden, da die schwierige Detektion der Schadensimpulse für diesen Fehlerfall allein durch die einkanalige Signalverarbeitung der Maschinenströme keine erkennbaren Schadensmuster im Frequenzgang erkennen lässt. Für den weiten Bereich der breitbandigen Lagerschäden jedoch konnte der mögliche Einsatz des Verfahrens als Diagnosewerkzeug in der Simulation und am Prüfstand im Labor durch den breitbandigen Einfluss auf den geberlos identifizierten Frequenzgang nachgewiesen werden.