„Bitte (nicht) sterben!“ Die Verwaisung Erwachsener als ambivalente Übergangssituation - untersucht in literarischen Rekonstruktionen der Söhne und Töchter
Der Tod alter Eltern ist ein Ereignis, das für erwachsene Kinder im mittleren Lebensalter oft eine von Widersprüchen und Ambivalenzgefühlen begleitete Erfahrung darstellt. Obwohl es sich um ein normatives und somit um ein zumeist erwartbares Lebensereignis im Verlauf der Entwicklung über die Lebensspanne handelt, hat es bislang kaum Eingang in die erziehungswissenschaftliche Forschung gefunden. Dem entgegen steht der Befund zahlreicher Texte von Schriftsteller*innen, die diesen Lebensabschnitt als einen bedeutsamen und in seiner Valenz oft unterschätzten Verlust thematisieren. Die hier bewusst als „Verwaisung“ im Erwachsenenalter bezeichnete Erfahrung ist Forschungsgegenstand der vorliegenden Dissertation. Sie umfasst die qualitative Analyse von acht autofiktionalen Texten zum Erleben von Sterben und Tod der Eltern im Altersspektrum von 70-99 Jahren aus der Sicht ihrer Kinder im mittleren Altersspektrum von 40-60 Jahren. In den untersuchten Texten, die im Zeitraum zwischen 1964-2014 entstanden sind, wird das Eintreten in den Status der „Verwaisung“ von den Töchtern und Söhnen als eine ambivalente Übergangssituation erlebt.
Untersucht werden die folgenden acht Texte:
- Simone de Beauvoir (1964) Ein sanfter Tod
- Verena Stefan (1993) Es ist reich gewesen
- Hermann Kinder (1997) Um Leben und Tod
- Josef Winkler (2007) Roppongi. Requiem für einen Vater
- Nicola Bardola (2005) Schlemm
- Noëlle Châtelet (2005) Die letzte Lektion
- David Rieff (2009) Tod einer Untröstlichen. Die letzten Tage von Susan Sonntag
- Emmanuèle Bernheim (2014) Alles ist gut gegangen
Die in den literarischen Texten sedimentierten Erfahrungen werden als Beispiele expressiver Orientierungsmuster im Feld von Sterben und Tod aufgefasst. Die Texte machen deutlich, dass diese Erfahrung als (auto-)biographisch relevant gedeutet wird und dass das Niederschreiben der Empfindungen und Begleitumstände als eine mögliche Verarbeitungsform reflektiert werden kann. Methodisch werden diese Texte als erzähltechnisch dargestellte, subjektive Deutungen bewertet. Als metatheoretische Rahmung wird das Ambivalenzkonzept sensu Kurt Lüscher herangezogen. Der hier analysierte Prozess der „Verwaisung“ verweist auf eine Transformation, die die Sicht auf die Welt zu ändern vermag und damit ambivalenz-sensible Dispositionen für Lösungsmöglichkeiten hervorbringt. Die praktizierte Herangehensweise an die Texte mitsamt ihren sprachlichen Besonderheiten unterstreicht die innovative Funktion literarischer Quellen für die Erziehungswissenschaft.